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Arzneimittel, die für den kindlichen Organismus entwickelt werden, sind rar.

Wenn Christoph Male mit Medikamenten behandelt, bewegt er sich permanent in einer rechtlichen wie medizinischen Grauzone. Male ist Kinderarzt am AKH in Wien. Sein Spezialgebiet sind Gerinnungsstörungen. Dazu gehören Erkrankungen, bei denen das Blut nicht flüssig genug ist. Dann verordnet er sogenannte Blutverdünner wie Heparin. Täglich bekommen es Kinder jeden Alters, um sie davor zu schützen, dass Blutklumpen ihre Adern verstopfen. "Für Kinder zugelassen ist es allerdings nicht", sagt er.

Off-Label-Use nennen Mediziner diesen Einsatz von Medikamenten. Es heißt nichts anderes, als dass Medikamente bei Patienten oder Krankheiten verordnet werden, für die sie eigentlich nicht erlaubt sind. Meist, weil für sie keine klinischen Studien vorliegen. Gedacht war diese Regelung als Ausnahme, in der Kindermedizin ist sie der Normalzustand. "Wir Kinderärzte sind es so gewohnt, die Verordnungsgrenzen überschreiten zu müssen, dass man es kaum mehr wahrnimmt", beschreibt Male das Dilemma. Das aber ist mitnichten dem sorglosen Verhalten skrupelloser Ärzte zuzuschreiben, vielmehr sind sie sogar gesetzlich dazu verpflichtet, nicht zugelassene Medikamente einzusetzen, wenn sie keine bessere Alternative haben.

Tatsächlich sind knapp zwei Drittel der Medikamente, mit denen Säuglinge, Kinder und Jugendliche behandelt werden, niemals für sie entwickelt und geprüft worden - auf Intensiv- und Neugeborenenstationen sind es bis zu 80 Prozent, wie jüngste Untersuchungen aus Linz und Finnland zeigen. "Je kleiner das Kind und je schwerer die Krankheit, desto weniger gesicherte Behandlungen gibt es", fasst Christoph Male zusammen. Als Mitglied des Pädiatrischen Komitees vertritt er die Interessen der österreichischen Kinderärzte bei der Europäischen Zulassungsbehörde (EMA).

Die Gründe für den Missstand sind vielfältig. In der Vergangenheit haben Gesetze weitgehend verhindert, dass Medikamente an Kindern getestet werden. Denn Kinder gehören zur Gruppe der nicht einwilligungsfähigen Personen. Nach jüngeren Gesetzesänderungen sind klinische Studien an Kindern unter Wahrung ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit nun möglich, aber sehr aufwändig. Einrichtungen und finanzielle Mittel gibt es zu wenige. Und auch die Pharmaindustrie hatte bis dahin kein wirtschaftliches Interesse an Medikamentenzulassungen für Kinder.

Kindlicher Organismus

Die Folge: Medikamente werden fast nur an Erwachsenen, meist an Männern zwischen 25 und 45 Jahren, getestet, mit dem Ergebnis, dass Kinder, aber auch Frauen und ältere Menschen Mittel einnehmen, die nicht an ihre Organismen angepasst sind. Am härtesten trifft das Kinder. Die gängige Praxis, Medikamentendosierungen einfach auf Körpergröße und -gewicht der Kleinen runterzurechnen, ist falsch und gefährlich. Auf die Ausreifung der Organe kommt es an.

So funktionieren Leber, Niere, die Transportmechanismen der Darmschleimhaut und die viele Enzyme im Körper je nach Alter ganz unterschiedlich. Die unreifen Organe von Frühgeborenen und Säuglingen reagieren viel empfindlicher auf Wirkstoffe, als es das Gewicht erwarten lässt. Dagegen verbraucht ein Kleinkind relativ zum Körpergewicht deutlich mehr Energie als ein Erwachsener. Die Folge ist, dass Arzneien wirkungslos bleiben, weil sie zu gering dosiert werden. Tatsächlich liegt das Risiko unerwünschter Nebenwirkungen für Kinder etwa doppelt bis dreifach so hoch wie bei Erwachsenen.

Welche Tragödien das nach sich ziehen kann, zeigen die Todesfälle in Innsbruck. Propofol ist ein Medikament, das Menschen in tiefen Schlaf fallen lässt. Als kurzfristiges Narkosemittel ist es für Kinder ab einem Monat zugelassen. Doch längerfristig bewusstlos halten, um etwa beatmen zu können, darf man Kinder damit nicht. Waren die beschriebenen 46 Stunden, mit denen ein dreijäh- riges Mädchen im Tiefschlaf gehalten wurde, zu lang, die Dosis zu hoch? Haben die Ärzte Fehler gemacht?

Viele Medikamente gibt es nur in hochdosierten Tabletten oder Lösungen - Darreichungsformen, die für Neugeborene und Kleinkinder denkbar ungeeignet sind. Dann fangen Ärzte an, Tabletten zu pulverisieren und abzuwiegen oder Injektionslösungen zu verdünnen. "Dieses Vorgehen birgt große Fehlerquellen", so Male.

Studien-Dilemma

Mangels systematischer Daten wissen Mediziner selbst bei bester Überwachung oft nicht, welche Dosis tatsächlich optimal ist. Die Linzer Untersuchung aus dem Jahr 2009 zeigt zudem, dass Kinder auf Intensivstationen durchschnittlich einen Cocktail von sechs Medikamenten erhalten. Dazu gehören Narkosemittel, Präparate zur Stabilisierung des Kreislaufs, Senkung des Blutdrucks. Das stellt die Ärzte vor ein weiteres Problem: Kaum einer kann sagen, welches Präparat dabei welche Wirkung erzielt.

Die EU-Kommission hat sich dieses Themas angenommen. Im Jahr 2006 verabschiedete sie ein Gesetz, das Pharmafirmen dazu verpflichtet, jedes ihrer neu zugelassenen Medikamente auch an Kindern zu testen. Tatsächlich wird das die Kindermedizin in den nächsten zehn Jahren verbessern. Doch nur wenige Eltern lassen sich davon überzeugen, ihre Kinder an solchen Studien teilnehmen zu lassen. Der ehemalige Leiter der Ethikkommission der Uniklinik Graz, Ronald Kurz, findet drastische Worte. "Die Leute bezeichnen Menschen, die an Arzneimittelstudien teilnehmen, als Versuchskaninchen", sagt er und hält einen Moment inne, "tatsächlich sind Ärzte aber täglich gezwungen, Kinder wie Versuchskaninchen zu behandeln, weil es für sie keine klinisch geprüften und zugelassenen Medikamente gibt." (Edda Grabar, DER STANDARD, Printausgabe, 21.11.2011)