Ansichten von Sofia ergänzte Luchezar Boyadjiew 1998 in der Serie "Home/Town" um eine persönliche Perspektive.

Foto: Boyadjiew Kontakt Sammlung

Krassimir Terziew beschäftigte sich mit Sofias "Denkmal der Befreier" - für junge Leute heute ein Ort zum Abhängen.

Foto: Krassimir Terziew

Veronika Tzekova: Space Appropriator #5 / Adaptation
(From the series Urban Olympics 2011)

Foto: Veronika Tzekova

Wie etwa eine Gegenwartskunstsammlung aussehen könnte, führt nun in Sofia eine Ausstellung der Kontakt-Kollektion der privaten Erste Group vor.

Vor zwölf Jahren kam Walter Seidl auf Einladung von Studienkollegen erstmals nach Sofia. Oft ist der Kunsthistoriker und Kurator seither in Bulgariens Hauptstadt gereist, hat Künstler und Ausstellungsmacher kennengelernt und die dortige junge Szene 2001 in der Kunsthalle Exnergasse mit der Schau "looming up" erstmals in Österreich vorgestellt. Worauf er stets zählen konnte, war, dass er, egal, zu welcher Ausstellungseröffnung er geht, sicher alle Künstler und Kuratoren treffen würde.

Warum, ist leicht zu erklären. Das zeitgenössische Kunstgeschehen ist in der 1,4-Millionen-Stadt sehr übersichtlich; Dass zeitgenössische Kunst zu einem modernen Image beitragen würde, hat man in Bulgarien noch nicht erkannt. In dieser Hinsicht ist es ein Entwicklungsland. Wohl auch, weil das noch relativ junge EU-Mitglied (2007) das niedrigste Bruttoinlandsprodukt der Gemeinschaft – und somit ganz andere Sorgen – hat. Lange passierte hier gar nichts, dann stampfte der amtierende Kulturminister zwei Museen (siehe Bericht) binnen eines Jahres aus dem Boden. Die Bedürfnisse der lokalen Szene verfehlen diese meilenweit; europäischem Vergleich könnte keines standhalten.

Keine Sammler

Auch im Jahr 2011 trifft Seidl also fast den gesamten lokalen Kunstbetrieb in nur einer Ausstellung. Diesmal ist es die Schau "Kontakt Sofia" in der Sofia Art Gallery und er der Kurator. Für die Erste Group hat Seidl (Sammlungskurator der Kontakt Art Collection) gemeinsam mit Maria Vassilewa, der dortigen Chefkuratorin, eine Präsentation konzeptueller Kunst aus Zentral-, Ost- und Südosteuropa seit den 1960er-Jahren konzipiert. Also Kunst aus Ländern, die das gleiche historische Schicksal teilen.

Aus deren Perspektive gewinnen viele Arbeiten noch an Tiefe und Eindringlichkeit – zum Beispiel die nackt marschierenden Soldaten im Video des polnischen Künstler Artur Zmijewski. Aus Bilddetails, die sich dem nicht im Sozialismus sozialisierten gar nicht erst mitteilen, ziehen Betrachter aus CEE-Ländern womöglich zusätzliche Informationen. Etwas aus der 90-teiligen Arbeit "Rot – Pink" (1973-1981) des in Zagreb lebenden Mladen Stilinovic, die mit dem ideologischen Gehalt, mit politischen und sexuellen Konnotationen der beiden Farben spielt.

Es gehe darum, "Osteuropa als Region begreifbar zu machen und nicht nationale Kunstgeschichten abzubilden", erklärt Christine Böhler, Direktorin der Kontakt-Sammlung, die Motivation für das sammlerische Engagement in Ländern, wo die Erste Bank ihre unternehmerischen Aktivitäten seit der Wende verstärkt hat. Für die Bank ist die Investition in Kunst image- und vertrauensbildend, für Länder wie Bulgarien aber auch Bestätigung und möglicherweise Impuls für Aufbau und Erweiterung von Sammlungen.

Auch die von der Kommune finanzierte Sofia Art Gallery hat eine Sammlung; sie ist sogar die größte Kollektion moderner bulgarischer Kunst. Die Gegenwartsabteilung wurde aber erst 2004 begründet, ihre Bestände sind entsprechend klein, vieles davon wurde Wessilewa sogar von den Künstlern selbst geschenkt. Nach Vorbild der Basis-Wien hat man dort ein Archiv der bulgarischen Gegenwartskünstlern angelegt. An der Zahl privater Sammler zeitgenössicher Kunst hat sich in den vergangenen Jahren nicht viel geändert. "Zwei, nein eigentlich nur anderthalb Sammler gebe es im Land", heißt es sarkastisch. Neben einer Unternehmerin, die nur wenige Werke besitzt, sammelt auch Nedko Solakow (geb. 1957), Bulgariens erfolgreichster Kunstexport. Eines seiner drei Ateliers dient ihm dabei auch als Depot seiner Sammlung. Als Solakows Arbeit "Top Secret", die seine Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst (bis 1983) thematisiert, 1990 erstmals ausgestellt wurde, sorgte das für heftige Kontroversen; 2007 auf der Documenta 12 hatte dieses Bekenntnis noch genug Kraft, um ihn international bekannt zu machen – der Verkauf der Arbeit war finanziell einträglich. Besonders seine Zeichnungen in Tusche auf Papier offenbaren den mit Witz und Ironie operierenden Geschichtenerzähler. Aktuell wandert eine große Werkschau Solakows an vier renommierte europäische Häuser (Ikon Gallery, Birmingham/ Smak, Gent / Fundacao Serralves Porto / Fondazione Galleria Civica, Trento), wobei an jeder Station aus seinem Oeuvre nur jeweils eine Arbeit pro Jahr ausgewählt wird. Kommendes Jahr wird Solakow, der Bulgarien auch auf der Biennale 1999 vertrat, an der Documenta 13 in Kassel teilnehmen. Das heißt wieder Zugfahren für den Künstler. Denn Solakow fliegt nicht.

Absurdität als Antrieb

Die mangelnde Sammlerdichte in Bulgarien wurde wohl auch der mit großen Hoffnungen erwarteten, 2007 eröffneten kommerziellen Galerie Arc Projects zum Verhängnis. Seit 2010 finden keine Ausstellungen und Projekte mehr statt. Ihre Macher, Iliyana Nedkowa und Chris Byrne, "moved on to new projects", so die Arc-Projects-Webseite. Auch das Interspace, ein Zentrum für neue Medien, an dem Künstler Krassimir Terziew beteiligt war, ist nicht mehr. Idealismus und freiwillige Selbstausbeutung sind Ernüchterung gewichen. Die jüngste Arbeit Terziews beschäftigt sich mit Erinnerungskultur, Geschichtsbewusstsein und der Art, wie mit noch existierenden Monumenten, im konkreten Fall dem Denkmal der Sowjet-Armee ("Denkmal der Befreier") gegenüber der Universität umgegangen wird. Es gibt eine konstante, oft von politischen Parteien für ihre Zwecke missbrauchte Debatte, ob man das Monument entfernen solle. "Monu-mental" heißt seine Videoarbeit, die die am Platz vor dem Denkmal abhängenden Jugendlichen und Skater in ruhigen, dokumentarischen Bildern einfängt. Einzig die unterlegte spannungsvolle Musik deutet an, dass hier möglicherweise etwas falsch läuft.

Iwan Moudow (geb. 1975), neben Luchezar Boyadjiew und Boryana Rossa einer der drei bulgarischen Positionen in "Kontakt Sofia", hat in seiner künstlerischen Arbeit oft auf die Krise der lokalen Kunstszene hingewiesen: Mit viel PR, großen Plakaten und Presseaussendungen, kündigte er 2005 die Eröffnung des "Musiz", eines Museums für zeitgenössische Kunst in der Bahnstation Podujane, an. Er behauptete sogar, Christo komme, obwohl der weltberühmte Künstler seit den 1950er Jahren nicht mehr in seiner Heimat war. Journalisten, Diplomaten und Kunstschaffende, alle gingen Moudow auf den Leim. Den folgenden Eklat sah er nicht gerechtfertigt. Moudow konterte, der eigentliche Skandal sei, dass es kein Museum für zeitgenössische Kunst in Sofia gebe. Der Umstand, dass zweihundert Leute, die mit ihrem Erscheinen Interesse an einem Museum kundgetan haben, eine halbe Stunde ihrer Zeit verloren haben und, sei die Aufregung nicht wert.

2010 folgte eine Videoarbeit, die sich neuerlich mit der Gründung eines Museums für zeitgenössische Kunst beschäftigte. Der von Moudow engagierte Rechtsanwalt erklärt darin die verquere und bürokratische Rechtslage zur Gründung einer Museums-Foundation. Unter anderem ist dafür der Besitz eines "kulturellen Erbes" notwendig, eine mindestens 50 Jahre alte Arbeit, die 150.000 Euro wert ist. Auch das neue Samca (siehe Bericht "Einsam im "Du-bist-allein"-Museum") müsste also eine solche Arbeit besitzen, mutmaßt Moudow. Um eine solche Museumsfoundation zu gründen, müsse man auch bereits die Verträge mit den Wachleuten vorweisen, zählt Moudow eine weitere, an die Schildbürger erinnernde Bedingung auf. Aber absurde Situationen seien Motivation und "Antrieb" für viele künstlerische Aktivitäten in Sofia, sagt Moudow.

Mit dem 0GMS hat er jüngst mit Künstlerkollegen (mit Steven Guermeur und Kamen Stoyanow) tatsächlich einen alternativen Ausstellungsraum eröffnet. Derzeit läuft in den in einer ehemaligen Wohnung im dritten Stockwerk untergebrachten Räumen noch die Eröffnungsschau mit dem programmatischen Titel "Meet everyone at once, start an artist-run-space". Martin Sturm zeigt am winzigen 0GMS-Balkon eine Seifenblasenmaschine. Dass die gerade keine Blasen spuckt, kommentiert man keck: „Das ist wie am Kunstmarkt, manchmal gibt es dort Blasen, manchmal nicht".

Das OGMS liegt nur drei Gehminuten vom Roten Haus entfernt. Das knallrote Gebäude war früher Atelier und Wohnhaus des sozialistischen Bildhauers Andrej Nikolow. Nach seinem Tod 1959 fiel es ans Kulturministerium, ein Teil wurde nach 1989 an die Erben Nikolows restituiert. Seit 2000 ist hier das Rote Haus – Zentrum für Kultur und Diskussion untergebracht, ein mit dem Wiener Depot vergleichbarer Ort öffentlicher kultureller und gesellschaftspolitischer Diskurse, das aber auch einen Ausstellungsraum hat. Für Veranstaltungen wie Lesungen und Diskussionen ist es möglich, Förderungen zu bekommen, sagt Zwetelina Jossifowa, die Direktorin des Roten Hauses. Den Rest des Betriebs (auch die Renovierung zu Beginn) kann man nur dank internationaler Förderprogramme stemmen. Für die Obrigkeit "existiert alternative Kultur nicht, und wird daher auch nicht unterstützt".

Nicht wahrgenommen werden in Sofia auch zeitgenössische urbane Kunstformen, wie Kunst im öffentlichen Raum und Street Art. Zwar sind Skulpturen allgegenwärtig – die Blüte der Bildhauerei während des Sozialismus, als man zahlreiche ideologische Monumente und Denkmäler in Auftrag gab – hat jedoch an den Kunsthochschulen gewisse Traditionen entstehen lassen. Auch heute noch sind die Flächen rund um die Museen zugestellt mit Skulpturen, in öffentlichen Parks sind diese oft in jämmerlichem Zustand. Die Statue der Heiligen Sofia, die nun am Todor Alexandrow Boulevard im Zentrum, wo einst ein Lenindenkmal stand, über die Geschicke der Stadt wacht, ist eine Skulptur der Gegenwart im konservativen Kleid. Graffiti, die die Stadt als Leinwand benutzt, gibt es zwar schon, räumt Künstlerin Veronika Tzekowa ein. Sie vermisst aber Projekte, die am wahren Charakter der Stadt ansetzen. In der urbanen Interventionsserie "Wumampadoi" macht sie die Masse an riesigen Schlaglöchern in der desolaten Stadt sichtbar, pflanzt darin Bäume oder Blumen oder legt einen Teich mit Plastikentchen an – Untertitel "When you Make a Mistake, Put a Duck on it". Andere Hindernisse in der Stadt, Stolperfallen oder Boller, die das Parken auf Gehwegen verhindern sollen, funktionierte sie zu temporären Schauplätzen ihrer „Urban Olympics"-Serie um, etwa zu einer Art Sommerskipiste.

"Wir leiden sehr unter der Kulturpolitik in Bulgarien", sagt Iara Boubnowa, die neben Maria Wessilewa eine der engagiertesten Protagonistinnen im Kunstbetrieb von Sofia ist. Gemeinsam mit Kuratoren und Künstlern, etwa Luchezar Boyadjiew, hat sie das Ica, das International Center of Contemporary Art, aufgebaut, aber "niemals lokale Förderungen erhalten". Das Ica ist für Künstler eine wichtige Anlaufstelle; organisiert etwa den Baza-Award, der von der Foundation for Civil Society gestiftet wurde und dem Preisträger ein sechswöchiges New York-Stipendium und eine Soloschau im Ica verspricht. Im Ica wird auf nicht viel mehr Platz als Zimmer-Küche-Kabinett Programm auf hohem Niveau (aktuell zeigt man Erwin Wurm) gemacht. Und man bietet sogar noch Unterschlupf für eine parasitäre Galerie: in der Küchenschublade. (Anne Katrin Feßler, DER STANDARD – Printausgabe/Langfassung, 15. November 2011)