Vulkanier müssen leider draußen bleiben, und so erzählen die spitzen Ohren des Fauteuils auch nicht von Sonderbotschafter Mr. Spock, sondern eher von skandinavischem Sitzgefühl. Es ist nicht der einzige Stuhl regionaler Fasson, auf dem es sich die Gäste des vor wenigen Wochen eröffneten Brüsseler Parlamentariums, einer interaktiven Dauerausstellung in Sachen EU, bequem machen. Denn auch andere Europagegenden haben ihr "Sitz! Platz!" entwickelt. Chesterfield verspricht harte, englische Stepptechnik, der Pariser Salonstuhl buntblasse Bürgerbehaglichkeit. Und Italiens flexibles Kunststoffmöbel sowieso alles - Experiment inklusive.
In Summe tragen so auch nationale Sesselstile, die den Panoramaraum des Parlamentariums möblieren, zum Europa der Sitzenbleiber bei. Denn wirklich weiterhasten will im Moment keiner. Am allerwenigsten die Besucher, die die abwechslungsreiche Aufbereitung der Lebendmaterie EU durch ein Labyrinth aus viel Farbe und Glas führt und dann in den "Tunnel der Stimmen". Die Fülle an Informationen, die sich mittels Multimedia-Tools erschließt und die Gäste entlang der Geschichte und Funktionskreise des Monsterprojekts herumirren lässt, ist aufregend genug.
Brüssel für Fortgeschrittene möchte man meinen. Oder EU für Anfänger. Die losen Nervenenden der Stadt, die am Solarplexus des Eurobeamtenkörpers für weitere Randnotizen sorgen, tragen durchaus zu diesem Eindruck bei. Denn sonderbar zerfasert verlaufen sich die Brüsseler Avenuen hier heraußen, zwischen Spekulationsruinen, kahlen Glasschluchten und den historischen Grünflecken des Europaquartiers.
Beispiel U-Bahn-Station Schuman. Ein kleiner Wald ambulanter Parabolantennen sprießt soeben aus einer Verkehrsinsel, gepflanzt von TV-Stationen aus aller Welt. Gelbe Baumaschinen, das Grau der Aktentaschenträger, die Ratssitz-Glasschleier des Justus-Lipsius-Baus, das Keuchen der Jogger im Leopoldpark und die Stille der kaum besuchten Belle-Époque-Squares der Avenue Palmerston - alles nur wenige Schritte weit auseinander.
Näher dran am Magennerv des Beamten-Brüssel ist man trotzdem am Trapez der Place Jourdan, wo sich zwar keine Trapezkünstler einfinden, aber rudelweise Pommes-Tiger. Dafür sorgt Chez Antoine, die vielleicht führende Frietjes-Legende der Stadt, deren Popularität auch die umliegenden Cafés neidlos anerkennen. "Besucher mit Pommes ausdrücklich willkommen", heißt es hier.
Die Kult-Pommes des Europaquartiers stehen wohl für Brüssel-Liebe auf den zweiten Blick - und machen definitiv Lust auf mehr. Denn wer sich durch den Zuckerguss der gut bekannten Postkarten-Seiten durchgeknabbert und altflämische Grand-Place-Fassaden, Pflichtstopps bei Lambic-Bier und Konfekt-Kalorien genossen und abgehakt hat, der findet jenseits des touristischen Mainstreams viel Raum für neue, kreative Nischen à la Bruxelles. Jazz in der Industrievorstadt, wo wenige Schritte neben der ehemaligen Belle-Vue-Brauerei Lastkähne über den Kanal schippern, fällt wohl in diese Kategorie. Die Metro-Kunst der Linien 1A und 1B entführt in den Untergrund - und in eine Gratis-Galerie zwischen Fahrscheinentwerter und Notbremse.
Ähnliches gilt auch für den Vintage-Shopping-Marathon durch Brüssels Arbeiterbezirke, wo er trotzdem die Routen der Jugendstil-Spaziergänger kreuzt: Anlässlich des aktuellen 150-Jahr-Jubiläums der Brüsseler Jugendstil-Ikone Victor Horta kein schlechtes Timing. Acht Modeviertel hat das staatliche Büro von "Designed in Brussels", eine Art Schalt- und Förderstelle für Nachwuchsdesigner, ausgemacht - und damit Ziele, die vom eleganten Antiquitäten-Viertel Sablon bis zur extravaganten Rue Dansaert reichen, der Lebensader von Brüssels hochkarätigem Modequartier, wo Sonja Noël 1984 De Stijl eröffnete - und einen Grundstein für den nachfolgenden Modehype legte. Dass die gerade mal achthundert Meter lange Straße zwischen der Börse und dem Kanal erste Modeadresse blieb, beweisen nun drei Dutzend hochkarätiger Läden: SW mit Annemie Verbeke, Gemüsemarkt-Couture à la Olivier Strelli, Christophe Coppens surreales Hut-Universum - alles da.
Doch auch der Fensterplatz im Ultime Atome, einem Café im trendigen Stadtteil Sint-Bonifaas, ist kein schlechter Einstieg fürs Brüsseler Design-Querfeldein. Zumal sich die spitz zulaufenden Miesmuschel-Ovale im schwarzen Emailtopf am Tisch und der Art-Noveaux-Schlingpflanzensalat auf den Fassaden vor dem Café gerade recht kongenial ergänzen. Sint-Bonifaas mag nur wenige Schritte hinter dem afrikanisch geprägten Matonge-Viertel liegen. Doch die Läden für alte Comicbände und Schallplatten und erst recht die Handschrift der lokalen Boutiquen, am bekanntesten jene der belgischen Modeschöpferin Nina Meert, haben der Gegend längst ihren Lifestyle-Stempel aufgeprägt - und polieren nun eine hundert Jahre alte Bescheidenheit auf. Denn Ernest Blérot, der an der Bonifaasstraat seine ganz private Jugendstil-Spielart entwickelte, hatte die Geschäfte und Mietshäuser mit einfacheren Fronten ausgestattet. Verspielt ja, manieristisch nein - das verströmt auch der aktuelle Stil des Viertels.
Folgt man dem Parcours Art Noveaux 4, der am Elsensesteenweg zum Viertel Flagey führt, und lässt die Indie-Boutiquen der Bonifaas-Bobos und die Artischocken-Pyramiden des regionalen Bauernmarkts hinter sich, dann zeichnet Brüssel die wellige Landschaft des Brabanter Plateaus nach, aber auch die Wellenbewegungen der Kunstgeschichte. Wie ein alter Ozeandampfer ankert da das modernistische Flagey-Gebäude neben dem mittelalterlichen Restposten des Elsene-Weihers - an sich eine ruhige Wohngegend mit noch mehr Schnörkel à la Blérot.
Eine Nummer rauer wird Brüssels Design-Spaziergang südwestlich der Avenue Louise, dem Sitz der Fachhochschule La Chambre, die heute als renommierteste unter den fünf Akademien für den kreativen Nachwuchs in Sachen Mode und Design sorgt. Oder sagen wir lieber: Die Viertel Kastelein und St. Gilles nehmen sich dezidiert suburban aus. Was in Brüssel des Jahres 2011 einmal Autowerkstätte im Backsteinbau, dann wieder Architekten-Cluster in einer aufgelassenen Hutfabrik bedeuten kann - und an der verschlafenen Rue Américaine 23-25 gar Jugendstiljuwel, und zwar von und für Victor Hortá errichtet. Ein Pflichttermin mit gepeitschten Treppengeländern und Schmiedeeisen-Gewächsen mitten im Manufaktur-Milieu, das immer erst am Nachmittag öffnet.
Wer Hortás Türklinke versperrt vorfindet, muss auf alternativen Kulturgenuss nicht verzichten. Bietet Kasteleins Rue du Page doch weitere Designfreuden, und die Place Georges Brugman, noch mehr Bijoux und ein Geschäft für personalisiertes Parfum. Vielleicht hat diese Tranche Brüssel auch deswegen längst einen neuen Namen bekommen: Le petit Paris. (Robert Haidinger/DER STANDARD/Prinausgabe/12.11.2011)