"Die SPÖ ist um zehn Jahre hinten nach. Was wir jetzt im Invaliditätsrecht gemacht haben, hätte schon in den 90er-Jahren gemacht gehört", sagt Sektionsleiter Walter Pöltner, selbst überzeugter Sozialdemokrat.

Foto: Rosa Winkler-Hermaden

"Sozialpolitik ist wie ein Öltanker. Sie drehen am Ruder und drei Stunden später dreht sich der Tanker langsam. Der Finanzminister glaubt immer, wenn wir eine Lösung präsentieren, wirkt sich das gleich im nächsten Jahr aus."

Foto: Rosa Winkler-Hermaden

"Wolfgang Schüssel hat viel für die Pensionen gemacht. Warum wir in dreißig Jahren weniger Probleme haben werden, ist ihm zu verdanken", streut der bekennende Sozialdemokrat dem ehemaligen ÖVP-Bundeskanzler Rosen.

Foto: Rosa Winkler-Hermaden

Am liebsten spielt Sektionschef Walter Pöltner den Blues. Wenn er an die Pensionen denkt, dann werde er auch ganz "bluesig".

Foto: Rosa Winkler-Hermaden

Walter Pöltner arbeitet als Sektionschef im Sozialministerium und wirkte an allen Pensionsreformen des vergangenen Jahrzehnts federführend mit. Warum der Spitzenbeamte die Forderungen der Pensionistenvertreter für ungerecht hält, weshalb sogar er an der Pensionsberechnung verzweifelt und was Wolfgang Schüssel im Vergleich zur SPÖ viel besser machte, sagt der deklarierte Sozialdemokrat derstandard.at.

***

derStandard.at: Sie sind nicht nur Sektionschef, sondern auch Musikliebhaber. Wenn Eric Clapton, eines Ihrer Idole, ein Lied über die Zukunft unserer Pensionen komponieren würde: Klänge es dann so todtraurig wie  "Tears in heaven" oder so glückselig wie "Wonderful tonight"?

Pöltner: Sicher nicht so wie "Wonderful tonight". Es wäre wahrscheinlich ein erdiger Blues.

derStandard.at: Den Blues spielen Sie am liebsten. Blues heißt traurig.

Pöltner: Ja, auch nachdenklich. Wenn du mit Pensionen zu tun hast, wirst du bluesig.

derStandard.at: Hört man Fachleute über Pensionen reden, dann klingt das auch wie Blues. Pensionsexperte Theodor Tomandl sagt, wenn die Politik nicht bald handle, komme es in zehn Jahren zu einer "dramatischen Situation", 2030 werde noch viel schlimmer. Wir bekämen "schärfste Maßnahmen" zu spüren. Zeichnen Sie auch so ein düsteres Bild?

Pöltner: Nein, das ist etwas überzeichnet. Das Sozialsystem war und ist immer unter Druck - im 19. Jahrhundert genauso wie im 21. Jahrhundert. Schon 1958 wurde zum Beispiel geschrieben, dass der Sozialstaat am Ende sei. Aber es ist gut, wenn Menschen warnen, denn darin liegt auch eine Wahrheit: Alles, was man jetzt macht, erspart uns später schärfere Eingriffe. Alles, was man jetzt versäumt, wird man mit großem Aufwand nachholen müssen. Tomandl übersieht aber, dass wir langfristig gar nicht so ein Problem haben wie in den nächsten zwanzig Jahren.

derStandard.at: Warum?

Pöltner: Weil sich die demographische Situation wieder entspannt und weil danach Menschen in Pension gehen, die ohnehin schon ein verschlechtertes Pensionsrecht haben. Sie werden im Verhältnis zu heutigen Pensionisten um 20 bis 30 Prozent weniger bekommen. Und sie werden auch nicht schon mit 57 Jahren in Pension gehen. Dafür werden schon jetzt große Anstrengungen unternommen.

derStandard.at: Dass die Menschen zu früh in Pension gehen, wird unter Experten einhellig als größtes Problem gesehen. Wie steuert Österreich da entgegen?

Pöltner: Wenn man dagegen etwas tun will, muss man Geld in die Hand nehmen. Wir erleben jetzt einen Paradigmenwechsel in der Sozialpolitik. Bisher war das Motto: "Es ist uns mehr oder minder egal, was mit den Leuten passiert. Aber wenn sie einmal alt oder krank sind, bekommen sie halt eine Geldleistung."

Den Gewerkschaften waren lange Zeit Fragen der Prävention wurscht, wenn nur ihre Mitglieder bei gesundheitsschädigenden Tätigkeiten entsprechende Zulagen bekamen. Das war aus der ökonomischen Situation der Arbeiter und Arbeiterinnen nachvollziehbar. Das kehrt man heute um. Da gibt es ein neues Denken.

derStandard.at: Wie sieht die Pensionspolitik heute aus?

Pöltner: Es geht in Richtung investive Sozialpolitik. Wir wollen rechtzeitig schauen, dass die Leute die richtige Berufswahl treffen und wollen sie rechtzeitig vor Krankheiten warnen: "Lieber Monteur im Außendienst, wenn du mit 40 Jahren noch so weitermachst, wirst du mit 50 invalide sein."

derStandard.at: Von jenen Menschen, die im Vorjahr ihre Pension antraten, ging jeder Dritte, weil er zu krank zum Arbeiten war - insgesamt waren das 25.000 invalide Menschen. Damit hat Österreich in ganz Europa einen Spitzenplatz. Was sind die politischen Rezepte gegen die Frühpensionen aufgrund von Krankheit?

Pöltner: Prävention beginnt heute schon in der Schule. Bereits dort entscheidet sich manchmal, welche Berufs- und Pensionskarriere jemand hat. Mit einer neuen Beratungsorganisation, nämlich mit fit2work, soll den Menschen rechtzeitig geholfen werden. Da brauchen wir eine Infrastruktur, damit sich die Leute beraten lassen können.

Die Arbeitsmedizin ist zum Teil, etwa bei psychischen Erkrankungen noch völlig rückständig. Wir brauchen Betriebsärzte, die sich um die Mitarbeiter am Arbeitsplatz kümmern und dabei die Gesamtsituation berücksichtigen - vor allem psychische Erkrankungen, also Stress. Wir müssen umdenken! Wenn ein 40-Jähriger oder eine 40-Jährige sechs Wochen krank ist, sollten sie einen Brief bekommen, in dem steht: "Brauchen Sie Hilfe? Wir bieten Ihnen folgendes an, schauen Sie sich das Angebot an!"

derStandard.at: Wann werden die jetzt gesetzten Maßnahmen wie das Beratungsprogramm "fit2work" greifen? 

Pöltner: Sozialpolitik ist wie ein Öltanker. Sie drehen am Ruder und drei Stunden später dreht sich der Tanker langsam. Die Finanzminister glauben immer, wenn wir eine Lösung präsentieren, wirkt sich das gleich im nächsten Jahr aus. Das geht nicht. 2,2 Millionen Personen sind in Pension. Die können und wollen wir nicht einfach abschaffen.

derStandard.at: Wir haben heute Probleme mit dem Pensionssystem, weil sich früher lange Zeit niemand darum kümmerte. Wen kann man dafür verantwortlich machen?

Pöltner: Die beiden Großparteien. Ich bin SPÖ-Mitglied und ich stehe zu meiner politischen Gesinnung, aber die SPÖ hat da mehr verabsäumt als die ÖVP. Ex-Bundeskanzler Wolfgang Schüssel hat zum Beispiel viel für das Pensionssystem gemacht. Warum wir in dreißig Jahren weniger Probleme haben werden, ist wohl ihm zu verdanken. Man kann Schüssel lieben oder nicht, aber er war da staatsmännisch unterwegs. Das ist ein Dilemma der europäischen Politik: Ein Politiker, der über eine Funktionsperiode hinaus denkt, wird nicht mehr gewählt.

derStandard.at: Was hat Ihre Partei genau verabsäumt?

Pöltner: Die SPÖ ist in einem Dilemma: Sie hat erreicht, dass wir ein hohes Maß an Sozialschutz in Österreich haben. Jetzt fällt es ihr schwer, diese Erfolge teilweise aufzugeben. Aber wir leben immer länger, und konsumieren länger die Pension - die Leute kriegen also immer mehr. Das heißt, wir verbessern laufend das Recht, wenn wir nichts tun. Das muss auch bezahlt werden, und zwar von der erwerbstätigen Bevölkerung. In den 60er-Jahren haben Arbeiter und Arbeiterinnen nur wenige Jahre die Pension bezogen, heute etwa 22 Jahre lang. Wenn wir nichts tun, dann kommt die erwerbstätige Bevölkerung logischerweise in ein Finanzierungsproblem.

derStandard.at: Was hätte die SPÖ tun müssen?

Pöltner: Sie hätte Maßnahmen im Pensionsrecht setzen müssen, wie es zum Beispiel die ÖVP mit der Einführung des Pensionskontosystems getan hat (Anm. Pensionsreform 2004). Die SPÖ ist um zehn Jahre hinten nach. Was wir jetzt im Invaliditätsrecht gemacht haben, hätte schon in den 90er-Jahren gemacht gehört. Sie macht jetzt das Richtige, aber nicht zum richtigen Zeitpunkt.

derStandard.at: In Österreich gibt es immer mehr Pensionisten und immer weniger junge Menschen, die für die Pensionen aufkommen müssen. Haben Sie die Forderungen der Pensionistenvertreter angesichts dessen in Ordnung gefunden?

Pöltner: Nein! Ich wundere mich immer, warum sich die Jungen das gefallen lassen. Ich hab den Pensionistenvertretern einmal vorgeschlagen, ein Jahr lang auf die Pensionsanpassung zu verzichten - heuer sind das beispielsweise 2,7 Prozent, also knapp eine Milliarde Euro. Sie hätten sagen können, dass das Geld stattdessen in die Bildung gesteckt wird. Das wäre doch ein Zeichen. Denn wir wissen, dass ein großer Teil für die Pensionen ausgegeben wird und dass wir zu wenig für die Bildung ausgeben. Die Pensionisten hätten sagen können: Wir finanzieren die Jugend. Aber diesen Generationenvertrag schaffen die Pensionistenvertreter nicht.

derStandard.at: Was haben die Pensionistenvertreter zu Ihrem Vorschlag gesagt?

Pöltner: Dass sie ihren Mitgliedern so etwas nicht erklären können. Ich glaube sogar, dass sie damit Recht haben. Dem Pensionisten mit kleiner Pension im Ennstal können Sie nicht erklären, dass er wegen der Uni in Wien auf 3,50 Euro monatlich verzichten muss.

derStandard.at: Pensionsexperten kritisieren nicht nur das Alt-Jung-Gefälle, sondern auch die Ungleichbehandlung zwischen Männern und Frauen. Erst ab 2024 wird das Pensionsalter der Frauen schrittweise angehoben und dem der Männer angeglichen. Experte Bernd Marin sagt, wenn man schon 2020 damit begänne, spare sich der Staat 710 Millionen. Ist das sinnvoll?

Pöltner: Selbstverständlich. Das weiß man intern, das wissen die Experten. Da sind Diskussionen im Gange. Wieviel man da spart, hängt aber vom jeweiligen Modell ab.

derStandard.at: Da werden die Frauen aber nicht erfreut sein.

Pöltner: Ich kenne Frauen, die nicht verstehen, warum das Anfallsalter nicht schon gleich ist. Dabei haben die Frauen auch deshalb eine geringere Pension, weil sie früher in Pension gehen - etwa um 10 Prozent weniger. Aber da finden Verhandlungen statt. Und man tut den Frauen damit insgesamt auch etwas Gutes.

derStandard.at: Sie haben einmal gesagt, die Experten seien schon viel weiter als die Politik. Sie sind seit fast zehn Jahren Sektionschef. Frustriert Sie eigentlich die politische Mühle, die so langsam mahlt?

Pöltner: Nein. Politik ist ein Weg, ein Mühen der kleinen Schritte. Sozialpolitik passiert nicht mit einem Vulkanausbruch.

derStandard.at: Wenn Sie die Allmacht über die Pensionspolitik hätten, was würden Sie zuerst umsetzen?

Pöltner: Eine einfache Pensionsberechnung und die Verbesserung des Invaliditätsrechtes.

derStandard.at: Eine einfache Pensionsberechnung hat auch Wirtschaftsminister Reinhold Mitterlehner (ÖVP) gefordert. Derzeit wird ja in den meisten Fällen gleichzeitig nach dem komplizierten alten System und dem vereinfachten, neuen Pensionskonto die Pension berechnet.

Pöltner: Ich würde die Parallelverrechnung abschaffen und sofort das Pensionskonto einführen. Das Alterssicherungssystem ist so intransparent, dass sogar ich es zum Teil nicht einmal mehr begreife. Wir haben so viele Übergangsregelungen - wir haben die Übergangsregelung zur Übergangsregelung. Wenn jemand vors Gericht geht, um die Pensionshöhe anzufechten, erschießt sich der Richter, weil er das nie nachrechnen kann. Es gibt nur wenige Menschen in Österreich, die das überprüfen können, weil dies eben so komplex ist.

derStandard.at: Warum ist Ihnen gerade dieses Thema so wichtig?

Pöltner: Transparenz ist ganz wichtig. Wir brauchen eine einfache Berechnung, bei der man schon im Erwerbsleben sieht, dass sich die Pension erhöht, wenn ich etwas tue und dass die Pension weniger wird, wenn ich nichts tue.

Das Pensionskonto ist so eine gute Geschichte, weil man sieht, wieviel man verdient hat und welche Grundlagen zur Pensionshöhe beitragen. Man kann damit auch in der Verwaltung einsparen . Und Sie sehen am Pensionskonto Ihre derzeitige Pension. Sie brauchen den Betrag nur durch 14 dividieren. Das schaffen selbst Juristen.

derStandard.at: Was würden Sie außer der vereinfachten Pensionsberechnung sofort umsetzen, wenn Sie könnten?

Pöltner: Das Frauenpensionsalter anheben und eine Workgroup einführen, die sich permanent mit der Invalidität auseinandersetzt. Die nicht sagt: "Jetzt ist eine Maßnahme aus und wir machen jetzt 4 Jahre lang wieder nichts".

Wir müssen unsere Mentalität ändern! Auch wenn das Arbeitsleben nicht immer leicht ist, können wir nicht einfach sagen: "Wenn man 50 ist, geht man in Pension." Wir brauchen bei den Betrieben und bei den ArbeitnehmerInnen einen Wandel in unserem Bewusstsein. Wenn Sie in Österreich einkaufen gehen, wieviele ältere ArbeitnehmerInnen sehen Sie dann?

derStandard.at: Also das "faule Denken" muss weg?

Pöltner: Es geht nicht ums „faule Denken". Aber die Pension kann nicht die Lösung aller Probleme ab 50 sein. Schauen Sie sich als Beispiel den Mick Jagger (Anm. Sänger der Rockband "Rolling Stones") und seine Burschen an. Die haben gesundheitspolitisch auch nicht sehr gut gelebt. Aber bei uns herrscht bei den Betrieben, Betriebsräten und Arbeitnehmern noch immer die Formel: „Wenn ich ein Problem habe, dann Pension." Da muss ich mir Alternativen einfallen lassen. Das ist die Hauptherausforderung. (Rosa Winkler-Hermaden, Benedikt Narodoslawsky, derStandard.at, 15. November 2011)