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"Oh, wie süß. Was ist es denn? Ein Bub oder ein Mädchen?" Genau diese erste Frage bei der Begegnung mit dem Neugeborenen Storm ließen das kanadische Paar Kathy Witterick und David Stocker unbeantwortet. Stattdessen verrieten sie schlicht den Namen ihres Familienzuwachses. Mit folgendem E-Mail-Text informierten sie den Freundes- und Familienkreis über ihre Entscheidung: "We've decided not to share Storm's sex for now - a tribute to freedom and choice in place of limitation, a stand up to what the world could become in Storm's lifetime (a more progressive place? ...)."

Nur die beiden Brüder, Jazz und Kio, sowie Teile der engsten Familie wissen um das biologische Geschlecht des Anfang 2011 geborenen Babys Bescheid. Worum es Kathy und David geht, ist die Einordnung in die Geschlechter-Schubladen mit all ihren konventionellen Zuordnungen, sei es Kleidungsfarbe, Wahl des Spielzeugs und andere mit dem sozialen Gender zusammenhängende Stereotypisierungen, zu unterbinden.

Aufwachsen ohne Gender-Kategorisierung

Im einzigen öffentlichen Statement der Mutter (Baby Storm's mom on gender, parenting and the media, The Ottawa Citizen, 28.5.2011) führt diese ihre Entscheidung auf eine Äußerung ihres Sohnes Jazz zurück. Jazz trägt sein Haar gerne lang und bevorzugt kräftige Farben, vor allem pink, sowie Kleider. Kurz vor Storms Geburt stellte er seiner Mutter die Frage, ob Außenstehende anders reagieren würden, wenn sie nicht über das biologische Geschlecht des Babys Bescheid wüssten. Welche Geschenke würden sie bringen? Wenn es ein Bub wäre, dürfte er Kleider tragen? Pink? Kathy und David erachteten die Überlegungen ihres Sohnes für legitim und entschieden sich daher, dass Storm fürs Erste in einem sozialen Umfeld ohne Gender-Kategorisierung aufwachsen soll.

Bereit für Gender-Neutralität?

Dass unsere Gesellschaft noch weit davon entfernt ist, eine vorübergehende Genderneutralität als legitime Erziehungsmaßnahme anzuerkennen, haben die darauf folgenden Reaktionen gezeigt. Die Geheimhaltung des Geschlechts machte rasch Schlagzeilen und stieß in der breiten Öffentlichkeit - gelinde formuliert - auf Unverständnis. Die Kontroverse rund um den Geschlechterdualismus machte Furore, sei es am Stammtisch konservativer Kleinbürger_innen oder als Diskussionspunkt linker Intellektueller. Wurde den Eltern von einigen Stimmen vorgeworfen, ihr Kind als soziales Experiment zu missbrauchen und gar empfohlen, ihnen das Sorgerecht zu entziehen, nahmen andere die Debatte zum Anlass, über Geschlechterbinarität und die Konstruktion von Identität zu philosophieren und forderten zum kritischen Hinterfragen sozialer Normen auf.

Regenbogenfamilien in Österreich

Dreht sich denn wirklich alles um das biologische Geschlecht (sex)? Schauplatzwechsel nach Österreich. Jüngste Vorstöße queerer Familienpolitik weltweit zur rechtlichen Anerkennung so genannter Regenbogenfamilien zeigen, dass die traditionelle Vorherrschaft der Kategorien von Heterosexualität und verschieden-geschlechtlichen Eltern langsam aufgebrochen wird. Zwar ist es gleichgeschlechtlichen Paaren in Österreich seit Einführung des Eingetragenen Partnerschafts-Gesetzes Anfang 2010 möglich, sich zu verpartnern und damit gegenseitige Rechte und Pflichten - vergleichbar einer heterosexuellen Ehe - einzugehen.

Anerkennung auf Elternschaft?

Allerdings wird homosexuellen Paaren eine Anerkennung von Elternschaft - im Unterschied etwa zu Deutschland - rechtlich verwehrt. So ist weder die gemeinsame Annahme noch die Stiefkindadoption zulässig. Begründet wird dies mit der aus 1960 stammenden adoptionsrechtlichen Bestimmung des § 182 Abs 2 ABGB, wonach der_die Annehmende jeweils den Elternteil ersetzt, der seinem_ihrem Geschlecht entspricht. Das österreichische Recht kenne keine doppelte Mutter- oder Vaterschaft. Es bedürfte lediglich einer einfachen parlamentarischen Mehrheit um diese, in einfachgesetzliche Lettern zementierte geschlechterbinäre Form von Elternschaft zu ändern. Gegner_innen der gleichgeschlechtlichen Elternschaft führen häufig Argumente des Kindeswohls ins Treffen. Dabei haben entsprechende Studien bereits in den Neunzigern gezeigt, dass für das Kindeswohl die harmonische Beziehung der Bezugspersonen ausschlaggebender Faktor ist und das Geschlecht der Eltern für ein gesundes Aufwachsen sekundär ist. Eine jüngste Studie des deutschen Bundesjustizministeriums ("Die Lebenssituation von Kindern in gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften") hat überdies ergeben, dass Regenbogenkinder oft zu stabileren Persönlichkeiten heranwachsen als Gleichaltrige aus anderen Familienformen und nur rund die Hälfte aller Regenbogenkinder jemals mit sozialer Diskriminierung konfrontiert ist.

Juristische Zukunftsvision

Die bisherige Untätigkeit des Gesetzgebers, die entsprechenden Bestimmungen anzupassen, könnte in nicht allzu ferner Zukunft ein Ende haben. Nach dem ausdrücklichen Gesetzeswortlaut steht eine medizinisch unterstützte Fortpflanzung bislang nur in einer Ehe oder Lebensgemeinschaft lebenden Personen verschiedenen Geschlechts offen (siehe § 2 Abs 1 Fortpflanzungsmedizingesetz). Auch der Judikative scheint diese Bestimmung nicht mehr zeitgemäß. Dies zeigt ein jüngster Antrag des OGH an den VfGH, die Wortfolge "von Personen verschiedenen Geschlechts" als verfassungswidrig aufzuheben. Konkret soll damit lesbischen Frauen, die in einer eingetragenen Partnerinnenschaft oder Lebensgemeinschaft leben, der Zugang zu medizinisch unterstützter Fortpflanzung und damit zu Elternschaft gewährt werden. Um legislativ vorwegzugreifen, haben Abgeordnete der Grünen Partei überdies Ende April zwei Entschließungsanträge eingebracht, die dem Justizausschuss zugewiesen wurden. Davon ist ebenso das mit dem EPG erlassene Adoptionsverbot für eingetragene Partner_innen betroffen. Die Ungleichbehandlung gleichgeschlechtlicher Paare im Unterschied zu heterosexuellen Paaren sei aufgrund der Möglichkeit der Einzeladoption nicht sachlich gerechtfertigt. So steht diese unabhängig von der sexuellen Orientierung jeder alleinstehenden Person offen. Darüber hinaus ist es nach österreichischem Recht zulässig, dass Einzelpersonen mit Zustimmung des Ehepartners_der Ehepartnerin sowie des eingetragenen Partners_der eingetragenen Partnerin ein Kind annehmen. Einzig die letzte Hürde, eine gemeinsame Annahme durch das gleichgeschlechtliche, eingetragene Paar, bleibt aufrecht.

Hier wie dort kämpfen atypische Familienformen mit Vorurteilen, die sich im Rahmen eines Diskurses rund um die Frage der Naturalisierung bewegen. Sowohl die Idee der Geschlechterbinarität als auch die Annahme einer angemessenen "natürlichen" Geschlechterrolle - sei es als Individuum oder als Elternteil - rekurrieren auf vorherrschende soziale Normen, die als "natürlich" empfunden und verteidigt werden. Ist es nicht längst an der Zeit offene Kategorien zu konstruieren, um fixe zu durchbrechen und Identität nicht primär an ein biologisches Geschlecht zu knüpfen, oder dreht sich wirklich alles nur um(s) sex? (Ilse Koza, derStandard.at, 8.11.2011)

Link www.diestandard.at "Geschlecht unbekannt"