Possierliche Vierbeiner mit unbehaglichen Geschichten: Petra Zanki und Britta Wirthmüller in Aktion im Wiener Tanzquartier.

Foto: Douglas Abuelo

Wien - Wer bestimmt, was als "normal" zu gelten hat? Was denkbar sein darf und was sexy wirkt? Danach fragen die beiden Choreografinnen Britta Wirthmüller aus Deutschland und Petra Zanki aus Kroatien. Ihre Reflexionen dazu haben sie nun auch im Tanzquartier Wien deponiert.

Wirthmüller - sie wird kommenden Monat als Performerin bei Anarchiv #3: Songs of Love and War von Deufert+Plischke wieder im Tanzquartier zu sehen sein - schildert in ihrem Solo Kissing Elisabeth eine nicht ganz alltägliche Kussszene: wie sie, die junge Frau, ihre Zunge in den Mund einer alten, zahnlosen Frau gleiten lässt. Strahlend steht Wirthmüller in ihrem roten Shirt und den braunen Kniehosen auf der Bühne. Erst schweigt sie, während aus dem Off eine reife weibliche Stimme zu hören ist, die penibel eine Straßenszene beschreibt und eine Mädchenfigur, die einen Teil der Szenerie bildet. Auf diese liebevolle Beschreibung folgt die Schilderung des Kusses. Satzteil für Satzteil. Vom grauen Haar an Elisabeths Oberlippe, das "mich an der Nase kitzelt" , bis zum Zahnfleisch, das "über meine Zunge streicht, so voller Begehren, als wäre es das erste und das letzte Mal in ihrem Leben" .

Woraufhin Wirthmüller mit minimalsten Bewegungen ihrer Schultern, Arme, Lippen, Hände, Hüften und Beine tanzt, und zwar genau das, was der berühmte US-Postmoderne Steve einen "small dance" nennt. So hält sie die Spannung, die sich beim Anhören der beiden Texte gebildet hat, in der Stille bis zum Ende aufrecht.

Antibodies nennen Petra Zanki und Britta Wirthmüller eine Trilogie, an der sie seit zwei Jahren arbeiten und deren zweiter Teil mit dem Titel Vierfüßer an demselben Abend zu sehen war. Die beiden Tänzerinnen ziehen Kapuzen über ihre Köpfe, stellen sich auf Knie und Hände. Sie posieren als menschliche Vierbeiner. Manche ihrer Posen sind anstrengend oder schmerzhaft. Sobald sie ihre Kapuzen wieder abstreifen, verwandeln sie sich in Katzen, die über die Bühne schleichen und bei jedem Geräusch die Köpfe wenden. Ihre Augen schillern im Licht.

Dieses Duett arbeitet sich an den Oberflächen ab, an denen in unserer durch Bilder gereizten Gesellschaft alles orientiert zu sein scheint. Sie ziehen ihre Sweatshirts aus, danach ihre T-Shirts und noch zwei Lagen, bis schließlich ihre nackten Rücken aufleuchten. Die Haut zeigt sich als ultimative Oberfläche. Meist bewegen sich Zanki und Wirthmüller synchron - das steht für reine Norm -, außer wenn sie wachsame Katzen spielen.

Mit diesen formal reduzierten, ironischen und inhaltlich klaren Stücken stellen sich die beiden Künstlerinnen kritisch und mutig gegen den exaltierten Normwahn in unserer Gesellschaft und den Hype flippiger Angepasstheit im Gegenwartstanz. (Helmut Ploebst, DER STANDARD - Printausgabe, 7. November 2011)