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"Wir sind noch nicht zum Frieden bereit." Türkische Polizei nach Zusammenstößen mit kurdischen Demonstranten in Diyarbakir im März 2011.

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Mit Massenfestnahmen schaltet der türkische Staat in den Kurdengebieten Bürgermeister und Vertreter der Zivilgesellschaft aus, die nicht der Regierungspartei AKP angehören.

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Die türkische Justiz will ihn für 252 Jahre hinter Gitter bringen, doch Abdullah Demirbaş ist sich nicht einmal sicher, ob er die nächste Woche erlebt. "Es geht mir im Moment gut", sagt der Bürgermeister von Sur, des alten Stadtteils von Diyarbakir, "aber die Lage kann sich jeden Augenblick ändern." Demirbaş hat eine seltene Stoffwechselkrankheit, die seine inneren Organe angreift. Aus der Untersuchungshaft hat ihn der Richter deshalb entlassen, doch zur medizinischen Behandlung ins Ausland darf der 45-Jährige nicht. "Für die Regierung ist das ein Weg, um mich umzubringen", sagt der kurdische Politiker.

Zweieinhalb Jahre nach der "demokratischen Öffnung" scheinen die Bemühungen um eine Lösung der Kurdenfrage in der Türkei aussichtsloser denn je. Die anfängliche Liberalisierung vom Juli 2009, als für die 20-Millionen-Minderheit kurdische Fernsehprogramme, Sprachstudien und hier und da zweisprachige Ortsschilder zugelassen wurden, ist unter dem Kampf gegen die PKK zusammengebrochen. "Wir sind noch nicht zum Frieden bereit" , konstatierte der Fernsehmoderator Ahmet Ali Birand. "Wir glauben merkwürdigerweise immer noch, dass wir dieses Problem mit Waffengewalt lösen können."

Demirbaş ist ein Beispiel dafür, wie die Lösung der Kurdenfrage verspielt wurde. Auf seinem Schreibtisch steht das Bild seines jüngsten Sohns, ein ordentlich frisierter Schulbub vor himmelblauen Hintergrund. Baran Demirbaş ging mit 16 in die Berge im Nordirak und schloss sich der PKK an. "Es war der 30. Mai 2009", erinnert sich der Vater, es ist ein quälender Gedanke. "Ich will keine Toten, ich bin gegen den bewaffneten Kampf."

Der junge Demirbaş ging, als die türkische Justiz begonnen hatte, systematisch kurdische Politiker, Anwälte, Hochschullehrer und andere Vertreter der Zivilgesellschaft festzunehmen. 3800 Personen sind es bisher nach Zählung von Menschenrechtsgruppen und der Kurdenpartei BDP, 485 laut Angaben des Innenministers. In vielen Städten und Dörfern im Südosten der Türkei sitzen mittlerweile Bürgermeister, Stadträte, ganze Teile der Verwaltungen im Gefängnis. Vorgeworfen wird ihnen eine angebliche Mitgliedschaft in der Untergrundorganisation KCK (Union der Gemeinschaften Kurdistans), einer Art politischer Arm der PKK.

Kurdenpartei im Visier

Auch Abdullah Demirbaş soll sich dafür vor Gericht verantworten. "Sie sagen, du gehst zu Konferenzen mit internationalen Gästen, du triffst dich mit ausländischen Politikern, du arbeitest also für die KCK", erzählt Demirbaş. Auch im Westen des Landes werden "KCK-Mitglieder" verhaftet. Büşra Ersanli, Dekanin des Instituts für Politikwissenschaften an der Marmara-Universität in Istanbul, ist unter 70 neuen Festgenommenen. Es sei durchaus möglich, dass die Verhaftungen bald die gesamte BDP umfassen, schrieb der Kommentator Oral Çalişlar: "Das ist keine legale Situation mehr, es ist eine politische Entscheidung."

Politische Beobachter weisen auf die Konkurrenzsituation zwischen der BDP und der regierenden konservativ-islamischen AKP im Südosten der Türkei hin. Obwohl die AKP von Premier Tayyip Erdogan in den kurdischen Gebieten Fuß fassen konnte, blieb ihr ein Wahlsieg in Diyarbakir bei den Kommunalwahlen im März 2009 versagt. Einen Monat später begannen die KCK-Verhaftungen. Die Regierung bereite schon die Kommunalwahlen von 2014 vor, sagt Abdullah Demirbaş nun. Die Botschaft an die Kurden, die für Kandidaten der BDP stimmen wollen, laute: "Ihr könnt sie wählen, aber wir werden sie verhaften."

Die PKK aber hat Zulauf, wie seit langem nicht mehr. Rund 300 junge Kurden sollen sich allein in der Provinz Diyarbakir in den vergangenen zwei Monaten der Guerillaorganisation angeschlossen haben. Etwa so viele, wie laut Angaben des türkischen Verteidigungsministers bei der jüngsten Armeeoffensive getötet wurden. (Markus Bernath aus Diyarbakir/DER STANDARD, Printausgabe, 3.11.2011)