Wien - Wann immer sich die Empfindung einstellt, so und nicht anders müsse ein Werk rüberkommen, handelt es sich um eine Illusion, da absolute Interpretationswahrheit nie existieren wird. Sehr wohl jedoch ist dies Gefühl ein Indiz dafür, einer ganz besonderen Musikstunde beigewohnt zu haben. Ob selbige mit jener Gelöstheit zusammenhängt, die sich im Anschluss an eine kleine Tournee, wie sie die Wiener Philharmoniker kürzlich mit Dirigent Georges Prêtre absolviert haben, einstellt, ist schwer zu sagen.

Jedenfalls: Ganz bei sich wirkten die Wiener, als es an die Umsetzung von Schuberts Unvollendeter ging; in vergleichsweise breitem Tempo ließ Prêtre jene singenden Kräfte des Orchesters romantische Tiefenschichten klangpräsent und doch leicht aufsuchen. Auch jene aus der Legatokultur geborene elastische Art, Passagen zu nehmen, frappierte - wie auch die Kontraste: Der zweite Satz mit seiner punktuellen Schlichtheit kam wirkungsvoll zur Geltung, da ein dramatisches "Aufbegehren" an anderer Stelle gleichsam in existenzielle Abgründe blicken ließ.

Unüberbietbar wirkte das. Und war gefolgt von einer siebenten Bruckner-Symphonie, an der man nebst den schon bei Schubert ersichtlichen poetisch strömenden Qualitäten auch Prêtres organisatorische Fähigkeiten bewundern konnte, die zielsicher jene gewaltigen Klangflutungen ansteuerten, bei denen im Musikverein auch kein Staubkörnchen ungerührt blieb.

Ebendort anderntags der Beginn des Cleveland-Orchestra-Gastspiels - und mit etwas strengerem Zugriff. Das führte bei Strauss' Metamorphosen zu soliden Ergebnissen, bei Mozarts Messe c-Moll KV 427 hingegen zu einer beeindruckenden Ausgewogenheit der Elemente. Chefdirigent Franz Welser-Möst organisierte die Verhältnisse zwischen dem fulminanten Wiener Singverein und dem Orchester hochkompetent, wobei die prägnant-kühlen Streicher vor allem im Leiseren ihre silbrig-metallische Präsenz entfalten konnten (Qui tollis oder Quoniam).

Zudem: Die Tempi waren eher im schnelleren Bereich angesiedelt (bis auf Qui tollis und Et incarnatus est) und trugen so zur Kompaktheit des Ganzen bei. Bei Malin Hartelius und Juliane Banse allerdings dauerte es eine Weile, bis sich vokale Balance und Sicherheit einstellten, während Martin Mitterrutzner und Ruben Dole weniger zu tun hatten - dabei aber tadellos wirkten. (Ljubiša Tošić, DER STANDARD/Printausgabe 2. November 2011)