Gravierender und interessanter Denkmusterwechsel des Wiener Erzbischofs: Weg vom römischen Kirchenrecht, hin zur individuellen seelsorgerlichen Situation.

Scherenschnitt: derStandard.at/rasch

Eine kirchliche Gelöbnisfeier für eine neue Beziehung nach einer gescheiterten sakramentalen Ehe, das ist in einigen römisch katholischen Pfarren zumindest für Insider durchaus möglich. Neu ist, dass sich der Wiener Erzbischof offen zu dieser Praxis bekennt.

Bisher waren ja Handreichungen zu diesem Thema eher "Unter-der-Handreichungen". Nun hat Kardinal Schönborn in seinem Vorwort zur Oktoberausgabe von "Thema Kirche" den Lesern den Schwerpunkt zum Thema gescheiterte Beziehungen und die darin enthaltenen Handreichungen persönlich empfohlen. Die Broschüre, die man auf den Folgeseiten findet, wird schon lange von der Plattform WIGE (Wiederverheiratete Geschiedene) vertrieben. Die WIGE verwies immer gern auf die Unterstützung des Kardinals. Nun gibt's aber endlich auch die offizielle Rückbestätigung - schriftlich.

Kern der Handreichung sind fünf Aufmerksamkeiten: Gegenüber den Kindern; gegenüber dem verlassenen Partner; gegenüber der Schuldfrage; gegenüber der Institution der Ehe und gegenüber dem Gewissen. Wenn diese Themen ausreichend geklärt sind, steht - so ist es dieser Broschüre zu entnehmen - einem Gelöbnis und einer Segensfeier nichts im Wege. Ein pastoraler Zugang, der anspruchsvoll ist und nicht billig die Vergangenheit abhakt.

Damit ist der Kardinal noch nicht bei der Praxis der Orthodoxen Kirche angelangt, die weitere kirchliche Ehen erlaubt, aber nahe dran. Die WIGE formuliert auf ihrer Homepage, es "soll für Menschen, deren erste Ehe zerbrochen ist, aber ein 'zweites Gelöbnis' möglich sein, das natürlich nicht den Rang einer kirchlichen Eheschließung hat" - Zugang zu den Sakramenten inklusive.

Dies ist ein gravierender und interessanter Denkmusterwechsel des Wiener Erzbischofs: Weg vom römischen Kirchenrecht, hin zur individuellen seelsorgerlichen Situation.

Einen Denkmusterwechsel, den er auch zur Frage des Kommunionempfangs deutlich ausspricht: Bei Situationen, "die mit dem Recht nicht einholbar sind ...
kommt es darauf an, dass die Seelsorger, ohne es sich leicht zu machen, dem Willen Gottes mit dem Herzen nachspüren. Sie müssen sich deshalb nicht als 'Ungehorsame' sehen."
Damit formuliert der Wiener Oberhirte im erwähnten Beitrag auch eine Teilrehabilitierung der Pfarrerinitiative. Gleichzeitig steht er mit dieser Praxis aber gegen die Vorgaben Roms, wo sowohl Kommunionempfang wie kirchliche Feiern für wiederverheiratete Geschiedene kategorisch abgelehnt werden: "Die erforderliche Achtung vor dem Sakrament der Ehe, vor den Eheleuten selbst und deren Angehörigen wie auch gegenüber der Gemeinschaft der Gläubigen verbietet es jedem Geistlichen, aus welchem Grund oder Vorwand auch immer, sei er auch pastoraler Natur, für Geschiedene, die sich wiederverheiraten, irgendwelche liturgischen Handlungen vorzunehmen", heißt es in der 1981 erschienenen Enzyklika Familiaris Consortio (Nr 84). Für den Kardinal bedeutet das: Willkommen im Ungehorsam! Dieser ist freilich nichts anderes als ein Gehorsam gegenüber dem Grundauftrag der Barmherzigkeit, die über dem Recht steht.

Dieses Coming-out eines schon lange eingeleiteten seelsorgerlichen Weges der Erzdiözese Wien ist ebenso mutig wie nötig, wenn man nicht in eine permanente Doppelmoral (Verlautbarung so - Handeln anders, bzw. Sonderweg nur für Eingeweihte) hineinlaufen will. Schönborns Vizevorsitzender in der Bischofskonferenz, Egon Kapellari, sah sich ja noch vor kurzem genötigt, zu erklären, es gebe in diesen Fragen in seiner Diözese keine von ihm autorisierte Praxis, die von Rom abweicht. Womit nicht dementiert wurde, dass es die Praxis gibt, sondern nur, dass sich Kapellari dazu bekennt. Das fällt unter die Strategie "Tarnen & Täuschen".

Bleibt zu hoffen, dass nicht in den nächsten Minuten in der der offiziellen Katholische Nachrichtenagentur kathpress zu lesen sein wird, dass Schönborn mit seinem Thema-Kirche-Beitrag völlig missverstanden wurde - oder gar behauptet wird, dass hinter seinem bischöflichen Rücken Inhalte in die Handreichung verpackt wurden, von denen er sich kapellarimäßig distanzieren muss. Dass soviel Unprofessionalität bzw. Sabotage gerade im offiziellen Mitarbeitermagazin der Erzdiözese stattgefunden haben könnte, ist natürlich extrem unwahrscheinlich.

Steht Schönborn weiterhin (auch nach einem persönlichen Telefonanruf des Nuntius) dazu, ist das ein ermutigendes Zeichen, dass die Kirche ihre Reformkraft nicht verloren hat.

PS: bei der Gelegenheit darf ich den Kardinal auch gleich bitten, die fragwürdige Exorzismus-Geheimpraxis in seinem Verantwortungsbereich zu beenden - siehe Blogeintrag: Schönborns Exorzismus.

PPS: Im Übrigen bin ich der Meinung, dass die Verantwortung der Päpste und des Vatikans am internationalen Missbrauchsskandal geklärt werden muss. Benedikts beharrliches Schweigen dazu macht ihn als Papst unglaubwürdig. (derStandard.at, 31.10.2011)