Demonstration ohne Führer, Protest, Auseinandersetzungen und Jubel auf dem Tahrir-Platz, aufgezeichnet von einem engagierten Filmemacher aus Italien.

Foto: Viennale

Destilliert aus 30 Stunden Filmmaterial, aufgenommen als stummer Beobachter der bunten Masse.

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Er müsse unbedingt kommen, um das alles mit eigenen Augen zu sehen, bedrängt die junge Ägypterin ihren Gesprächspartner via Handy. Nur hier am Tahrir-Platz könne er, dessen Facebook-Gruppe einen großen Beitrag zum Ausbruch der ägyptischen Revolution geleistet hatte, die Entwicklung des Aufstands richtig einschätzen. So groß wie der Unterschied zwischen Erde und Mars ist der zwischen dem Platz der Befreiung und der restlichen Welt.

Für Tahrir, Liberation Square, eines der ersten Langfilmdokumente jener von modernen Kommunikationstechnologien bereits so stark geprägten Erhebung, landete Stefano Savona mitten im Trubel des Kairoer Innenstadtplatzes. Eine Einblendung zu Beginn verrät, dass es sich gerade um den sechsten Tag der Kundgebungen handelt. Auf weitere Orientierungshilfen verzichtet Savona jedoch. Alles, was er seinen Zusehern bietet, ist das Destillat aus über 30 Stunden Filmmaterial, aufgenommen als stummer Beobachter der Masse.

Mit Ahmed, Elsayed und Noha hat der Film zwar drei Hauptprotagonisten, primär ist Tahrir, Liberation Square allerdings die Dokumentation einer Demonstration ohne Führer, das Porträt des protestierenden Volkes an sich. Manche Gesichter streift die Kamera bloß, andere beobachtet sie genauer, einigen bietet sie sich als Sprachrohr an. Dabei wird auch die Heterogenität der Menge erkennbar, die der oftmals recht vage bleibende Wunsch nach einem Sturz Mubaraks und einer gerechteren Zukunft antreibt.

Immer wieder fängt Savona Gruppen beim Skandieren ihrer Parolen ein, deren mitreißenden Rhythmen man sich kaum entziehen kann. Überhaupt wirkt das Gezeigte selbst ohne nähere Erklärungen allein durch seine Unmittelbarkeit höchst ansteckend. Mit den Demonstranten durchlebt man so Momente der Euphorie, des Zögerns und der Furcht. Sehr nachdrücklich wirken die Momente des Kampfes. Savona begibt sich nicht an die Front, zeigt aber das hektische Auseinanderbrechen der Pflastersteine und deren Transport in die umkämpften Zonen. Gegen die Laufrichtung der Kamera werden Verletzte abtransportiert oder bringen sich wankend in Sicherheit. Schwenkt der Blick nach oben, sieht man den Hagel der Steine, vor dem sich Demonstranten mit selbstgebastelten Helmen aus Pappkarton zu schützen versuchen.

Nach dem Rücktritt Mubaraks und den ersten Freudenkundgebungen zeigen sich jedoch wieder die Unterschiede der Protestierenden. Während viele freudig abziehen, mahnen andere, über die weiteren Intentionen etwa von Militär und Muslimbrüderschaft im Unklaren, dass nur eine Schlacht, der Krieg jedoch noch lange nicht gewonnen sei. Über den Abspann hinaus zeigt sich Savona so als empathischer Skeptiker, der Wahrhaftigkeit verpflichtet. (Dorian Waller/DER STANDARD, Printausgabe, 31. 10. 2011)