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Proteste gegen horrende Wohnungskosten und soziales Ungleichgewicht.

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"Der Wohlfahrtsstaat wird zurueckkommen", fordert die junge Frau auf ihrem Transparent.

Foto: Andreas Hackl

Nach einer längeren Pause sind die israelischen Sozialproteste diesen Samstag in die Straßen zurückgekehrt. „Wir wollen einen Wohlfahrtsstaat", „Bibi (Netanyahu), du bist entlassen", und „das Volk fordert ein größeres Budget", waren einige der Slogans auf den Transparenten, die über den Köpfen der rund 20.000 Menschen in Tel Aviv zu sehen waren. Lut dem Fernsehsender Channel 10 sollen es sogar 45.000 gewesen sein. Auch in Jerusalem und vier weiteren Städten fanden Kundgebungen statt, wobei jene in der südlichen Stadt Beer Sheva wegen Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen abgesagt wurde. An den grundlegenden Forderungen der Demonstranten hat sich seit den letzten großen Protesten am 3. September, als rund 450.000 Menschen demonstriert haben, wenig geändert. Israel, so der Tenor der Bewegung, bleibt weiterhin eine ungerechte Wirtschaft. Das Leben sei zu teuer und die Löhne zu niedrig.

Um das zu ändern, hatte die Regierung ein Expertenkomitee eingesetzt. Doch mit dem Gremium, das der renommierte Ökonom Manuel Trajtenberg leitet, will die Protestbewegung weiterhin nichts zu tun haben. Eine „unverhohlene Beleidigung" nannte die Protestführerin Dafne Lif den Bericht des Komitees, der am 26. September veröffentlicht wurde. Anstatt der geforderten Wurzelbehandlung, wolle man die Bewegung so bloß mit Zähneputzen vertrösten.

„Stattdessen ist das Parlament jetzt unser Komitee", sagt die Protestinitiatorin Stav Shafir selbstbewusst. Das Regierungsgremium sei von vornherein mit einem schwachen Mandat ausgestattet gewesen und deshalb unzulänglich. Deswegen soll sich die Bewegung nun auf das Parlament konzentrieren, das diese Woche aus der Sommerpause zurückkehrt. Dort werden sich Aktivisten tagtäglich in Komitees mit Politikern austauschen. „So wollen wir auch zeigen, welche Parlamentarier sozial und welche unsozial sind", erklärt sie zum geplanten Projekt, dass über eine neue Internetplattform für die Öffentlichkeit realisiert wird.

Über die letzten Wochen hat sich die größte Protestbewegung in der Geschichte Israels zumindest äußerlich stark verändert. Denn alle größeren Zeltstädte wurden mittlerweile von den Behörden abgetragen. Auch am Rothschild-Boulevard im Zentrum von Tel Aviv, der im August noch Heimat für mehr als 2000 Zelte war, ist das normale Leben wieder eingekehrt. Anstelle von Workshops, Basisdemokratie und Protesten findet man dort jetzt wieder Spaziergänger und Radfahrer.

Die Protestführung will von Normalität trotzdem nichts wissen, sondern weitermachen, bis sich etwas ändert. So wurde für Dienstag den 1. November ein Streik ausgerufen. „Israelis sollen an diesem Tag nicht zur Arbeit gehen, oder einfach etwas Besonderes tun, das unseren Kampf würdigt", meint Shafir. Auch Boykotts und andere Methoden des zivilen Widerstands seien eine Möglichkeit. Etwa auch Hausbesetzungen, die besonders in Jerusalem von einer kleinen Aktivistengruppe schon jetzt aktiv betrieben werden.

Solange jedenfalls, bis sich etwas ändert, werde man weiter kämpfen. Motivation scheint dafür genug vorhanden zu sein. Bei der Demonstration am Samstag haben sich immer wieder tausende Stimmen zu den altbekannten Worten „Das Volk fordert soziale Gerechtigkeit" erhoben. Live-Musik und Kabarett füllten bei der Schlusskundgebung den Raum zwischen den Podiumsrednern, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Eine alleinerziehende Mutter aus Jerusalem, ein palästinensischer Israeli aus Nazareth, ein Arzt, ein 15-jähriger Jugendlicher und ein Ultra-Orthodoxer Jude haben zwar jeweils über ihre ganz persönlichen Hintergründe und Probleme gesprochen, jedoch auch bewusst nationale Einheit demonstriert.

„Jeder einzelne muss etwas tun", forderte Dafne Lif zum Schluss. So wurden die Demonstranten dann auch um eine Spende gebeten. Die Welt verändern kostet immerhin auch Geld. Und in einem Satz haben die Protestführerinnen ihren Ton gegenüber der Regierung von Benjamin Netanyahu eindeutig verschärft. „Die Regierung hört uns nicht zu, weil wir friedlich sind. Schaut euch all diese Leute hier an und denkt darüber nach, was passiert, wenn wir nicht mehr friedlich sind." (derStandard.at, 30.10.2011)