Terpsichore ist die Muse des Tanzes; eine von neun Töchtern, die der griechische Göttervater Zeus mit Mnemosyne zeugte. In ihrem Geiste geht es in den Beat Club, zu jungen Leuten, die im England der 1960er-Jahre neue Bewegungsmöglichkeiten entdecken. Ihre Vorfahren stammen aus jenen Weltgegenden, welche sich das Empire einst einverleibte. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs haben sie beziehungsweise ihre Eltern den umgekehrten Weg genommen und sich in Großbritannien niedergelassen - allerdings zu ungleich schlechteren Bedingungen und weit weniger ausführlich dokumentiert oder fiktionalisiert.

Der 1957 in Ghana geborene britische Filmemacher John Akomfrah, der in den 80er-Jahren das Black Audio Film Collective mitbegründete und dem Black Cinema wesentliche Impulse gab (Handsworth Songs, 1986; u. a.), bedient sich für seine jüngste Arbeit, The Nine Muses, folglich bei den großen westlichen Erzählern und Lyrikern: Bei der griechischen Mythologie - die neun Musen und ihre Talente schaffen eine lose Struktur -, bei der Odyssee und im Alten Testament, aber auch bei Shakespeare, John Milton, Dante, Emily Dickinson oder James Joyce. Aus Off-Stimmen, O-Tönen und Musik entsteht so ein dichter Score, eine moderne, vielstimmige Elegie.

Auf der Bildebene arbeitet Akomfrah ähnlich collagierend: Er verwendet einerseits historisches Archivmaterial, das eine Entwicklung mitvollzieht: Vor allem junge Männer sieht man anfangs auf Schiffen, in Häfen, bei harter Arbeit an Hochöfen, als Tellerwäscher. Später kommen Frauen hinzu, Aufnahmen von ganzen Knäueln lachender Schulkinder ("Thalia - die Muse der Komödie") und von den Tanzenden. Spielfilmausschnitte und Straßenbefragungen zeugen von Ablehnung durch die Mehrheitsbevölkerung - auf der Tonspur fungieren Songs wie Sometimes I feel Like a Motherless Child als Übersetzung solcher Erfahrungen.

Aliens im Schnee

Zu dieser Found Footage kommt außerdem noch neu gedrehtes Material, das eine weitere Assoziations- und Reflexionsebene eröffnet: In glasklaren, leicht farbentsättigten Digitalaufnahmen sieht man einzelne Gestalten in markanten einfärbigen Anoraks reglos vor weiten Schneelandschaften, an verschneiten Straßen oder ansonsten menschenleeren Ufern stehen. Den Rücken zur unbewegten Kamera, wirken sie wie Aliens.

The Nine Muses ist allerdings weniger Science- als vielmehr History-Fiction: ein wehmütiger, wort- und bildgewaltiger Gesang, der von der Odyssee der Vielen kündet - und der der filmischen Erzählung von einer der zentralen (und anhaltenden) Erfahrungen des vorigen Jahrhunderts noch einmal eine ganz andere Möglichkeit eröffnet. (Isabella Reicher, DER STANDARD - Printausgabe, 29./30. Oktober 2011)