"Am Anfang hatte ich große Scheu", erzählt die Wissenschaftssoziologin Judith Kröll über ihren ersten Besuch auf der Wachkomastation. "Die Interaktion mit den Patienten war nicht besonders groß." Kröll ist Mitglied einer Gruppe, die sich "Xperiment!" nennt und seit mehr als zehn Jahren Projekte durchführt, die zwischen Kunst, Forschung und gesellschaftlichen Praxisfeldern angesiedelt sind. Krölls Auftritt auf der Station fiel in die Faschingszeit, und auf der Station wurde gefeiert. Auch sie war verkleidet und wusste zunächst nicht, was sie tun sollte: "Ein Patient hat das Eis gebrochen. Der hat mit mir zu blödeln begonnen - einfach durch Handheben und Lachen."
Karnevaleske Ereignisse waren nicht unbedingt das, was Kröll auf der Wachkomastation des Geriatrischen Zentrums Liesing erwartet hatte - und einen Patienten, der in direkter Kommunikation die Initiative übernahm, schon gar nicht. Durch Erlebnisse wie dieses baute Judith Kröll ihre anfänglichen Berührungsängste bald ab. Seit 2004 arbeitet sie jetzt gemeinsam mit dem Künstler und Forscher Bernd Kräftner und der bildenden Künstlerin Isabel Warner mit der Wachkomastation zusammen. Gereizt hat die Gruppe die Frage, wie für ein Individuum, das selbst nicht mehr in der Lage ist, sich zu artikulieren, dennoch Entscheidungen in seinem Sinne getroffen werden können. Zwischen Medizin, Pflege, Angehörigen und Patienten existiert ein Raum des Nichtwissens, der Unsicherheit, das die Gruppe systematisch zu untersuchen begonnen hat. "Informiertes Einverständnis" lautet der Begriff für einen Prozess, in dem Medizin, Pflege und Angehörige zu einem umfassenden Blick auf den Patienten und seine Bedürfnisse gelangen sollen.
In vielen Schritten näherten sich Kröll, Kräftner und Warner dem Thema Wachkoma an: Sie dokumentierten Routineabläufe in der Patientenpflege fotografisch und zeichnerisch. Sie setzten sich mit Fragen der Pflegewissenschaft und der medizinischen Forschung auseinander. Und: Sie kreierten Methoden, die im Stationsalltag regelmäßig zum Einsatz kommen. "Polsterforschung - verborgene Talente und multiple Diagnosen" heißt das Projekt, das vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) unterstützt wird. "Der Polster ist am nächsten an den Patienten dran", begründet Isabel Warner die ungewöhnliche Wortkreation für die Arbeiten, die auf künstlerische Selbstverwirklichung weitgehend verzichten. Nicht zufällig knüpfen die Artefakte an basale Sinnesreize an: "Duftpolster", "Kitzelpolster" oder "Humorpolster" lauten ihre Namen.
Man kann nicht einfach hingehen und mit den Patienten sprechen", erzählt Judith Kröll. "Aber mit der Zeit wird man selbst zum Instrument für eine Interaktion jenseits der Sprache." Isabel Warner spricht sogar von einer "jeweils individuellen Sprache", die sie zu den einzelnen Patienten im Lauf der Zeit entwickelt hat. "Mir kommt es vor wie eine Reise in diesen Menschen, ein Kennenlernen über Monate", sagt sie.
Isabel Warner hatte ebenfalls mit dem Gefühl der Deplatziertheit zu kämpfen, als sie im April 2004 mit einem Skizzenblock und ein paar Bleistiften anrückte. "Auf der Station war alles anders, als ich dachte", erzählt sie. "Den Block habe ich erst nach sechs Monaten das erste Mal benutzt. Ich bin da nur hin, um zu schauen, zu hören - und zu staunen."
Zu staunen gibt es genug im ersten Stock des Pavillon 11 des Geriatrischen Zentrums am Wienerwald. Die Anlage mit ihren eigenen Zubringerstraßen, der internen Buslinie und den ausgedehnten Grünflächen zwischen den massiven Gebäuden wirkt wie eine Stadt in der Stadt. Auf der Station selbst begegnet man einer unaufgeregten Betriebsamkeit. Die weitläufigen Gänge zieren Fotomontagen von Ausflügen und Feiern mit den Patienten. Einige von ihnen halten sich in ihren Rollstühlen auf dem Gang auf oder verbringen gerade Zeit mit Angehörigen im Aufenthaltsraum. Bei gutem Wetter besteht die Möglichkeit, einen Balkon zu nutzen. Derzeit befindet sich dort der von der Gruppe Xperiment! installierte "Duftpolster", eine Metallkonstruktion, auf der sich mehr als 60 verschiedene Kräuter befinden. Pflegepersonal und Angehörige sind dazu eingeladen, die Patienten mit den verschiedenartigen Düften zu stimulieren.
Ich "teste" einige der Kräuter spontan mit der Patientin S., die mich seit meiner Ankunft mit neugierig lächelnden Blicken verfolgt. "Sie mag Männer", klärt mich die Mutter einer anderen Patientin augenzwinkernd auf. S. gibt mir bezüglich der einzelnen Düfte klare Signale: Behagt ihr der Geruch, atmet sie entspannt und lächelt. Mag sie ihn nicht, vernehme ich ein abweisendes Grummeln.
Aus einem Zimmer am Ende des Ganges dringen leise Geräusche von Apparaturen, die den körperlichen Zustand einiger Wachkomapatienten überwachen und bei Atmung und Schleimabfuhr behilflich sind. "Wir schlucken ungefähr zwei Liter Speichel pro Tag, ohne dass wir darüber nachdenken", erklärt Stationsschwester Doris Baumgartner, die seit 2008 auf der Station tätig ist. "Viele Patienten hier leiden an einer Schluckstörung, und je massiver diese ist, desto eher besteht die Gefahr einer Erstickung." Mit Kanülen, an denen kleine Ballons befestigt sind und die durch künstliche Öffnungen im Halsbereich eingeführt werden, werden die Patienten in ihrer "Arbeit beim Schlucken und Husten" unterstützt, wie Baumgartner erklärt, eine Formulierung, die verdeutlicht, dass den Patienten auf der Wachkomastation ein Potenzial an Aktivität zugestanden wird, die ihnen eine uninformierte Gesellschaft oft leichtfertig abspricht.
"Wir betreuen Menschen, für die es in den Augen von vermutlich 80 Prozent der Bevölkerung besser wäre, sie wären tot", konstatiert der Stationsleiter und Primararzt Johann Donis. "Als ich 2000 die Station übernahm, stand in der Beschreibung lediglich: neurologische Abteilung mit sechs Apalliker-Betten." Apallisches Syndrom ist der medizinische Fachausdruck für das Krankheitsbild, dessen geläufigere Bezeichnung Wachkoma lautet. Die Ursachen für das Syndrom sind vielfältig: Schädel-Hirn-Traumata nach Unfällen können ebenso Auslöser sein wie zu lange dauernde Sauerstoffunterversorgung des Gehirns nach einem Herzstillstand, einem Schlaganfall, einer Gehirnblutung oder Anästhesieunfällen infolge von Operationen.
Derzeit dürften österreichweit rund 1000 Menschen im Wachkoma leben, die Hälfte von ihnen in häuslicher Betreuung. Mit Apallikern hatte der Neurologe Johann Donis bereits in seiner vorherigen Tätigkeit auf der neurologischen Akutstation im Wilhelminenspital zu tun. "Dort kannte ich das Syndrom jedoch nur als 'Abfallprodukt' meiner Tätigkeit", erzählt er. Die medizinische Intensivversorgung behandle diese Patienten unter dem Motto "Da kann man nicht mehr viel machen" und versucht sie möglichst rasch loszuwerden. In der Vergangenheit bedeutete dies für die Betroffenen, irgendwo im Niemandsland zwischen häuslicher Pflege, klassischer Betreuung auf geriatrischen Stationen oder - im besten Fall - in der Langzeitrehabilitation zu landen. Auf ersten Rundgängen durch seine neue Arbeitsstätte entdeckte Donis weitere elf Personen, die vom apallischen Syndrom betroffen waren. "Auf meine Frage, wie diese Leute hierherkommen, bekam ich die Antwort: 'Die hat man uns reingelegt'", erzählt Donis. "Mir war schnell klar, dass das hochaufwändige Patienten sind, die sehr spezielle Bedürfnisse haben und für die man ein Gesamtbetreuungssystem einrichten muss."
Auf Augenhöhe
Donis, der von 1997 bis 1999 eine zusätzliche Ausbildung zum Qualitätsmanager im Gesundheitsbereich gemacht hatte, installierte für die optimale Betreuung der apallischen Patienten eine intensive Kooperation mit dem Personal im Pflegebereich. Die Zusammenarbeit mit der damaligen Stationsschwester Anita Steinbach bezeichnet der Arzt heute als Sternstunde. "Da haben sich zwei Verantwortliche aus zwei unterschiedlichen Hierarchien getroffen und auf Augenhöhe miteinander agiert." Gemeinsam mit Steinbach entwickelt er ein Betreuungskonzept samt Umfeldanalyse und Prozessplanung - ein eineinhalbjähriger Prozess, der schließlich in die offizielle Gründung der Wachkomastation mit insgesamt 36 Betten mündet.
Die Pionierarbeit auf der Station wurde auch international wahrgenommen und mit dem renommierten Golden Helix Award ausgezeichnet, der vom Verband der Direktoren der deutschen Krankenhäuser vergeben wird. "Eine Zeitlang waren wir Weltklasse", sagt Donis. In seinen Stolz mischt sich Resignation angesichts der schleichenden Demontage, die sich seit einigen Jahren vollzieht. Personalmangel und Kostendruck haben der Station so zugesetzt, dass der hohe Pflegestandard bedroht ist. Die in spätestens drei Jahren bevorstehende Übersiedlung der Station ins SMZ Ost sieht eine Kürzung der Bettenzahl auf 22 vor.
Von Beginn an bemühten sich Donis und sein Team um eine starke Einbindung der Angehörigen. "Die Situation für die Angehörigen ist hier emotional eine völlig andere als auf einer geriatrischen Station", erklärt der Primar. Das Durchschnittsalter seiner Patienten liegt bei ungefähr 45 Jahren. Die jüngste Patientin, die auf der Station beherbergt wurde, war erst 14. "Das Leben der Angehörigen ändert sich mit dem Ereignis schlagartig und dramatisch. Die mangelnde Artikulationsfähigkeit ist nicht nur für das Pflegepersonal, sondern vor allem auch für die Angehörigen sehr belastend. Man kann den Menschen nicht fragen: War das gut oder schlecht, was ich gemacht habe? Die Annäherung vollzieht sich in einem permanenten gegenseitigen Abtasten."
Was das heißt, weiß Herbert Trojer aus eigener Erfahrung. Seine 1973 geborene Tochter Anne lebt seit elf Jahren auf der Station. Nach einer fast zweijährigen Odyssee durch diverse Rehabilitations- und Pflegeeinrichtungen erhielt sie im September 2000 in der Wachkomastation einen Platz. Ihr 72-jähriger Vater, ein pensionierter Bauingenieur, besucht Anne abwechselnd oder zusammen mit seiner Frau täglich. "Anne war immer strebsam", erzählt Trojer. "Sie studierte Internationale Betriebswirtschaft und stand vor ihrer letzten Prüfung, als ihr damaliger Freund sie zu einem Thailand-Urlaub überredete." Im Februar 1999 ist Anne mit ihrem Freund unterwegs. Weil ein Zug nach Bangkok restlos überfüllt ist, nehmen sie den Bus. "Der Fahrer schlief um drei Uhr früh am Lenkrad ein und kollidierte mit einem abgestellten Lkw", erzählt Herbert Trojer. "Der Bus stürzte um, genau auf die Seite, wo Anne am Fenster saß." Ihr nur leicht verletzter Freund hilft bei der Bergung, die sich jedoch kompliziert gestaltet, weil das nächste Spital dreißig Kilometer entfernt ist. Annes Zustand ist so kritisch, dass sie erst nach sechs Tagen von einer Schweizer Flugambulanz in ihre Heimat ausgeflogen werden kann. Nach drei Wochen auf der neurochirurgischen Intensivstation beginnt für Anne ein langwieriger Prozess des Verlegt- und Verschobenwerdens, der erst auf der Wachkomastation ein für sie und ihre Familie erträgliches Ende findet.
Sie lacht oft
"Wir wissen nicht, wie viel Anne mit ihren Augen erkennen kann", erklärt der Vater. "Aber hören kann sie gut. Sie lacht oft, wenn jemand neben ihr lustige Bemerkungen macht." Annes Eltern und ihre ältere Schwester setzen sich aktiv mit Schicksal und Zustand apallischer Patienten und ihrer Angehörigen auseinander.
2001 gründeten sie gemeinsam mit Primar Donis die Österreichische Wachkomagesellschaft, um Gelder für Pflege und Forschung zu lukrieren und in der Öffentlichkeit ein Bewusstsein für die Bedürfnisse von Apallikern zu schaffen. Dass dies selbst im engeren persönlichen Umfeld schwierig ist, erfuhren Trojer und seine Familie in den vergangenen Jahren am eigenen Leib. "Es gibt schon Verwandte, die sich nach Anne erkundigen, aber einige waren noch nie hier zu Besuch", erzählt Trojer. "Ein Paar aus der Nachbarschaft, mit dem meine Frau und ich befreundet waren, macht seit dem Unfall von Anne einen Bogen um uns. Das tut weh."
Johann Donis erklärt sich dieses Verhalten so: "Wachkomapatienten zeigen das Grauen des Lebens so plakativ. Der Mensch hält nichts schlechter aus als die Vorstellung, sich nicht artikulieren zu können. Bei einem Krebspatienten würde wohl niemandem einfallen, diesem im Endstadium die Nahrung zu entziehen. So etwas gibt es nur im Wachkomabereich." Donis spielt damit auf die Amerikanerin Terri Schiavo an, die sich nach einem akuten Sauerstoffmangel über 15 Jahre im Wachkoma befand. Ihr Schicksal erregte weltweit Aufsehen.
Schiavos Ehemann konnte die Entfernung des Nahrungsschlauchs gegen den ausgesprochenen Willen ihrer Eltern gerichtlich durchsetzen. Schiavo starb im März 2005 an Wassermangel. "Beim Thema Wachkoma entzündet sich innerhalb von fünf Minuten eine hochemotionale Diskussion", sagt Primar Donis. "Denn im Hintergrund stellt sich die Frage: Wie gehen wir miteinander und vor allem mit den kranken und behinderten Menschen um?"
"Vor diesem Projekt war ich eigentlich eher für Sterbehilfe", erzählt Isabel Warner vom Xperiment!-Team. Nach ersten Besuchen auf der Station begann sie ihre Position gründlich zu überdenken. "Angesichts des Elends, das ich beim Heimfahren in der Straßenbahn oft beobachte, kommt mir vor, dass bei den Patienten teilweise mehr Lebensqualität gegeben ist als in der realen Welt." Die Polster der Xperiment!-Gruppe verknüpfen in diesem Sinn die stationäre Perspektive mit einem Blick nach draußen. "Das sind keine Ach-wir-sind-so-lustig-Ideen", betont Bernd Kräftner. "Wir verstehen unsere Arbeit weder als hübsche Bebilderung noch als Ikonografie des Leidens. Was man künstlerisch tut, erhält hier einen anderen Drall, weil man in einem Netzwerk der Bedürfnisse und Ansprüche gefangen ist." Um zu verdeutlichen, wie sehr alle involvierten Personen an einem gemeinsamen Prozess des Fragens und Suchens teilhaben, entwickelte die Gruppe ein "Research Center for Shared Incompetence" (deutsch: Forschungszentrum für geteilte Inkompetenz).
Die Entstehungsgeschichte des "Humorpolsters" steht exemplarisch für die Produktivität einer solchen "geteilten Inkompetenz": Bernd Kräftner versuchte die Kommunikationsfähigkeit eines Patienten mittels eines in England entwickelten Diagnoseverfahrens festzustellen, indem er ihn in einem ritualisierten Ablauf mit verschiedenen Sinnesreizen stimulierte. Ergebnis nach acht Durchläufen: kaum eine erkennbare Reaktion. "Beim Zusammenräumen bin ich neben dem Bett unglücklich gestolpert - und plötzlich beginnt der Mann zu lachen." Kräftner wiederholt das Stolpern absichtlich und erntet einen weiteren Lacher.
Der Fehler wird Programm: Die Gruppe beginnt Angehörige zu befragen, welche Art von Humor die Patienten vor ihrem Fall ins Wachkoma gemocht haben, und stellt Ausschnitte aus Slapstick- und Comedy-Filmen zusammen. Um die Wirkung der Szenen auf die Patienten zu dokumentieren, entwickeln Kräftner, Kröll und Warner eine komplexe Figur: ein menschengroßes Eichhörnchen, dessen Kopf aus einem Polster besteht, in dem sowohl ein Bildschirm als auch eine Kamera installiert sind. Während der Film läuft, werden die Patienten einmal pro Sekunde fotografiert. Zur Interpretation der Ergebnisse hat Xperiment! einen "kollektiven Sensor" gebaut, wie Bernd Kräftner es nennt: Eine ausgewählte Gruppe von Beteiligten stimmt darüber ab, ob das jeweilige Bild des Patienten einem Schmunzeln, Lächeln oder Lachen entspricht. Eine kleine, aber nicht unbedeutende Übung für jenen Prozess, in dem "informiertes Einverständnis" im Sinne des Patienten entstehen soll. Bernd Kräftner spricht in dem Zusammenhang von einer "prozesshaften Ethik der Pflege", die auf einem dynamischen Denken beruht und ein Gegengewicht zur "Ethik der großen Entscheidungen" bildet, in der alles immer nur auf die Frage hinausläuft: "Hat dieser Mensch eine lebenswerte Existenz oder nicht?" (Helmut Neundlinger, DER STANDARD Album, 29.10.2011)