Videokonferenz zwischen Franziska Michor, die in Boston Krebsforscherin ist, Vater Peter Michor ...

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... und Schwester Johanna. Mathematik war immer präsent in der Familie - über Ziele und Motivation lässt sich aber streiten.

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Franziska Michor: "Wenn Mathematiker zu Besuch waren, wurde gekocht, Schnaps getrunken und Fußball gespielt."

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Johanna Michor: "Mathematik ist ein Kulturgut. Und jeder sagt mit großer Selbstverständlichkeit, keine Ahnung zu haben."

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Peter Michor: "Man entscheidet sich für Mathematik, weil man die Natur verstehen will, nicht um Karriere zu machen."

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Standard: In Ihrer Familie folgen die Kinder den beruflichen Fußstapfen des Vaters. Ausnahme oder Regel?

Franziska Michor: Die Mutter ist Krankenschwester, der Vater Mathematiker. Es hat unseren Haushalt geprägt, dass Peter die Wissenschaft so wichtig war und dass Mathematiker zu Besuch gekommen sind. Da wurde gekocht, Schnaps getrunken und Fußball gespielt. Die hatten viel Spaß miteinander. Ich habe so gesehen, dass Wissenschaft auch ein Hobby sein kann, dass Wissenschafter es auch lustig haben.

Peter Michor: Ich bin überrascht und fasziniert, dass beide Kinder Mathematikerinnen geworden sind. Ich habe immer gedacht, ich hab was falsch gemacht, denn normalerweise machen Kinder etwas anderes, aber sie haben mir nie Vorwürfe gemacht.

Standard: Hatten Sie nie das Gefühl, etwas ganz anderes machen zu müssen?

Johanna Michor: Wir haben in unserer Jugend Pferde bekommen, mit der Auflage, dass wir nicht Tierärztinnen werden. Es hat nur in dieser Hinsicht eine Beeinflussung gegeben, sonst wurde das Ergebnis durch Vorbildwirkung erzielt.

Franziska Michor: Ich mache ja auch nicht genau dasselbe wie mein Vater. Ich würde mich zuerst als Krebsforscherin bezeichnen. Ich verbinde das Interesse von Peter, etwas Konkretes verstehen zu wollen, mit der humanitären Mission meiner Mutter Elli.

Johanna Michor: Ich habe darauf geachtet, dass ich mir ein anderes Gebiet in der Mathematik suche, das nichts mit meinem Vater zu tun hat. Als er begann, in meine Richtung zu arbeiten, habe ich gesagt: "Du, bleib fern."

Standard: Was treibt Sie als Mathematiker eigentlich an? Liegt es nur am familiären Umfeld, dass Franziska und Johanna sehr jung das Doktorat gemacht haben und Franziska in Harvard Karriere macht?

Peter Michor: Ich möchte gleich dazu sagen: Mathematik ist keine Karriere. Man entscheidet sich für Mathematik, weil man die Natur verstehen will, weil man die geistesgeschichtliche Bedeutung der Mathematik verstehen will und nicht um Karriere zu machen.

Franziska Michor: Das ist Peters Meinung. Ich glaube, man kann Wissenschaft schon als Karriere betreiben. Natürlich mache ich Wissenschaft hauptsächlich deshalb, weil ich als Biomathematikerin dabei helfen will, Krebs zu heilen und neue Medikamente zu erforschen. Was mich antreibt? Meine Schwester Joni hatte da großen Einfluss. Sie ist zweidreiviertel Jahre älter als ich. Als ich klein war, war sie immer einen Schritt voraus: Sie ging früher in die Volksschule, früher ins Gymnasium. So gut sein wie Joni, das war immer mein Ziel. Der Peter war sowieso unerreichbar, der ist so gescheit und so alt, den kann man nicht einholen.

Johanna Michor: Das höre ich jetzt zum ersten Mal. Mit ungefähr 18 hast du mich erreicht, oder? Du warst deiner Zeit immer voraus.

Franziska Michor: Du warst immer knapp vor mir. Wie die Karotte vor der Nase. Insofern habe ich dir viel zu verdanken. Was war dein Antrieb?

Johanna Michor: Ich wollte verstehen, was passiert in der Natur. Deswegen bin ich zur Mathematik gekommen. Im Studium kam dann die Ernüchterung, dass man nur ein ganz kleines Teilgebiet wirklich verstehen kann. Also muss man sich noch mehr spezialisieren - und unterm Strich bleibt dann vom Die-große-Welt-Verstehen nicht sehr viel übrig. Mit 18 hat man jede Menge Energie - das war mein Antrieb. Das Interesse wurde bei uns außerdem immer gefördert, bei anderen Kindern ging es vielleicht in der Schule verloren. Wir sind nicht zerstört worden.

Standard: Wollen Sie diese Interessen auch Ihrem Kind weitergeben?

Johanna Michor: Charlotte ist jetzt eineinhalb und sehr interessiert an allem. Ob wir sie wirklich zur Mathematik ermutigen werden, weiß ich nicht. Die Wissenschaft hat viele harte Seiten. Heutzutage haben es die Jungen doch schwerer als zu Peters Zeiten. Ich fürchte, das wird sie bei uns auch mitbekommen. Ich habe zum Beispiel noch keine permanente Stelle.

Standard: Ist das in den USA anders?

Johanna Michor: Das System ist komplett anders und sehr klar: Man steigt als Doktor ein, gibt sein Bestes und sieht bald, ob es eine Chance auf eine Stelle gibt. In Österreich ist die Hälfte der Studenten mit der Frage beschäftigt: Bin ich überhaupt gut genug, um das Doktorat zu schaffen? Viele sind geplagt von Selbstzweifeln in diesem unklaren System, wo man sehr viel Zeit verliert.

Peter Michor: Ich glaube, die Wissenschaft wächst zurzeit weltweit nicht. Es ist relativ leicht, Forschungsprojektgelder zu bekommen und Dissertanten oder Postdocs anzustellen. Aber Dauerlaufbahnstellen gibt es viel zu wenige.

Standard: Franziska, könnten Sie Ihre Forschung auch in Österreich betreiben?

Franziska Michor: Meine spezifische Arbeit könnte ich wahrscheinlich auch woanders machen, aber es hängt viel vom wissenschaftlichen Umfeld ab: Wie die Uni einen behandelt, wie die Zusammenarbeit funktioniert. Wenn man flexibel ist und bereit, einiges aufzugeben, ist alles nicht so dramatisch.

Standard: Inwieweit sind Sie, Johanna, bereit, die Forschung für die Familie aufzugeben?

Johanna Michor: Ich war ein Jahr lang bei meiner Tochter. Wäre ich zwei bis drei Jahre weg gewesen, dann hätte ich schon Schwierigkeiten gehabt, wieder in die Forschungsgruppe einzusteigen. Man ist doch ein hochgezüchtetes Geisteswesen - so schön es ist am Spielplatz mit den anderen Mamis, es fehlt mir dann doch, wenn ich mich nicht hinsetzen kann, und mein Hirn und ich allein sind.

Standard: Haben es Mathematikerinnen mit Kindern schwerer, Karriere zu machen?

Johanna Michor: Unsereins sitzt und rechnet und braucht Zeit. Vielleicht ist in einem anderen Gebiet die Arbeitsweise besser mit Kindern vereinbar.

Franziska Michor: Es ist kein Wunder, dass Frauen in der Wissenschaft, und besonders in der Mathematik, weniger repräsentiert sind. Spitzenleistung braucht immer viel Zeit. Das ist halt schwierig mit Kindern.

Johanna Michor: Wir müssen sehr frustrationstolerant sein. Wenn man sich die Forschungszeit mühsam abzwackt von seiner Zeit mit der Familie und dann einen Misserfolg nach dem andern hat, wirft man leichter das Handtuch.

Peter Michor: Als Mathematiker hat man Misserfolg auf Misserfolg. Manchmal hat man Probleme, die man ein Jahrzehnt lang mit sich herumträgt.

Standard: Wie gehen Sie also mit Frustration um?

Johanna und Franziska Michor: Das interessiert uns auch ...

Peter Michor: Der Weg ist das Ziel.

Johanna und Franziska Michor: (lachen)

Peter Michor: Ich bin nicht frustriert, wenn etwas nicht funktioniert. Dann weiß ich zumindest mehr. Ich habe viele Eisen im Feuer. Im Prinzip denkt man ja immer über Mathematik nach, beim Essen, beim Einschlafen - und manchmal weiß ich in der Früh, wo der Fehler war.

Franziska Michor: Für mich ist das nicht so, dass der Weg das Ziel ist. Das Ziel ist das Ziel. Ich mach das nicht, weil ich mich gern von unlösbaren Gleichungen ärgern lasse, sondern weil ich glaube, dass man so einen Beitrag zur Krebsforschung leisten kann. Ich muss ein Problem nicht exakt analytisch lösen. Es gibt mehrere Methoden.

Johanna Michor: Es gibt bei euch in der Krebsforschung mehrere zufriedenstellende Lösungen für ein Problem, auf verschiedenen Schwierigkeits- oder Exaktheitsstufen, diesen Luxus gibt's bei uns nicht.

Standard: Die beinharte Theorie, wo alles bis ins Letzte stimmen muss und es keinen anderen Weg gibt - ist das das Reizvolle für Sie?

Johanna Michor: Genau.

Peter Michor: Dafür ist das, was wir gefunden haben, auch in 50 Jahren noch großartig.

Franziska Michor: Das ist jetzt vielleicht die Diskussion zwischen reiner und angewandter Mathematik. Jeder hat seine Gründe, warum er oder sie sich das eine und nicht das andere aussucht.

Peter Michor: Ich gebe gern zu: Es gibt auch ein Leben außerhalb der Mathematik. Ein Koch hat sicher auch eine Freude an seiner Tätigkeit, ein Landwirt oder ein Journalist. Der muss auch mit Frustration und Deadline-Druck umgehen - und sich motivieren.

Franziska Michor: Als Joni und ich auf der Uni waren, haben wir uns gegenseitig Tritte in den Hintern gegeben, um uns zu motivieren.

Standard: Es gibt also doch auch Teamarbeit in der Mathematik?

Peter Michor: Es gibt immer mehr Zusammenarbeit. Man schreibt ja fast keine Arbeiten allein.

Johanna Michor: Ich empfinde es als fast autistisch, wenn man wochenlang in seinem Kämmerchen allein über etwas brütet.

Peter Michor: Ein bisschen Asperger-Syndrom braucht man, wenn man als Mathematiker überleben will.

Standard: Inwiefern gehört Medienarbeit dazu? Sie, Franziska, wurden schon öfter interviewt, da stand dann zum Beispiel im "Esquire" zu lesen, dass Sie nicht nur klug sind, sondern auch gut aussehen und Lkw fahren und Kuchen backen können. Ist es nötig, dass man Wissenschafterinnen so darstellt?

Franziska Michor: Die Art von Wissenschaft, die ich betreibe, hat schon sehr viel mit Verkaufen zu tun. Das fängt damit an, für welches Publikum man eine Arbeit schreibt: Für Mathematiker muss alles exakter sein, mehr Formeln haben. Wenn ich für Krebsforscher schreibe, liegt der Fokus am Biologischen, Klinischen. Was ich mache, wird auch von den Medien interpretiert. Gelobt sei der Tag, an dem Wissenschafter helfen, Popkulturmagazine zu verkaufen. Wenn man mehr junge Mädchen zur Wissenschaft bringen oder die Wissenschaft cooler machen will, muss man halt in Kauf nehmen, dass die Person vermarktet wird. Aber es sind natürlich Klischees.

Johanna Michor: Wir haben damals sehr gelacht.

Standard: Haben auch Sie Probleme mit Klischees?

Peter Michor: Aber selbstverständlich. Wann immer man zugibt, dass man Mathematiker ist, hört man: Ich hab schon in der Schule nichts verstanden. Das ist so ein furchtbares Fach. Dabei braucht es jeder im täglichen Leben - immer wenn man bezahlt und schaut, ob das Restgeld stimmt.

Johanna Michor: Mathematik ist ein Kulturgut. Und jeder sagt mit der größten Selbstverständlichkeit, dass er keine Ahnung davon hat. Niemand würde das über Goethes Faust sagen.

(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 25./26. Oktober 2011)