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Rachid Ghanouchi.

Foto: REUTERS/Zoubeir Souissi

Rachid Ghanouchi, den Gründer der tunesischen islamistischen Partei Ennahda, lernte ich im März 1999 kennen. In seinem Exilsitz, einem kleinen Einfamilienhaus in einem Londoner Vorort, empfing er mich bei Tee und Gebäck. Im Folgenden das Gespräch - anlässlich des Sieges der Islamisten bei den tunesischen Wahlen am Sonntag - das wir damals führten:

Reiner Wandler: Sie sind einer der Vordenker des politischen Islamismus im Maghreb. Glauben sie, dass es nach der algerischen Tragödie überhaupt noch eine Zukunft für ihre Bewegung gibt?

Rachid Ghannouchi: Die Zukunft wird dem Islam und den Islamisten gehören, da bin ich mir ganz sicher. Die Alternative zum Islamismus ist ein säkulares Regierungsprojekt und dies ist überall gescheitert, nicht nur bei uns in der arabischen Welt, sondern auch im Westen. Die säkularen Systeme waren und sind nicht in der Lage der Mehrheit der Jugend eine Perspektive zu geben. Die Jugend sieht keinen Sinn im Leben. Selbst im Westen sind Familien und das gesellschaftliche Leben völlig zerfallen. Da bei uns in der arabischen Welt die meisten Regime unter dem Einfluss des Westens stehen, leiden sie unter den gleichen Erscheinungen. Sie sind nicht in der Lage, den Menschen ethische und moralische Werte zu geben - von wirklichen Lösungen für die politischen und sozialen Problemen ganz zu schweigen.

Nehmen wir Palästina als Beispiel. Was hat dort das säkulare Regime zur Lösung der Situation beigetragen? Nichts. Israel besetzt Tag für Tag neue Ländereien, und ist nicht bereit, irgendwelche Abkommen einzuhalten. Die einzigen, die dagegen ernsthaft Front machen, sind die Islamisten. Die säkulare Bewegung ist überall in der arabischen Welt gescheitert. Anstatt die Demokratie zu bringen, die Zivilgesellschaft zu stärken, brachte sie uns diktatorische Regimes.

rw: Und der Islamismus steht für Freiheit?

RG: Es wäre nicht das erste Mal in der Geschichte, dass der Islam Systeme mit einer starken Zivilgesellschaft schaffen würde. Eine multikulturelle und multireligiöse Gesellschaft mit freiem Wettstreit über die Interpretation des Koran ist mit dem Islam durchaus vereinbar. Im Islam kennen wir das Konzept des "Ischdihed" - der freien Interpretation des Koran. Wir kennen keine in sich abgeschlossene Kirche, die als einzige die heilige Schrift auslegen darf. Jeder Muslim kann den Koran frei auslegen. Deshalb war die islamische Zivilisation von jeher sehr reich an Diskussionen und Ideen.

rw: Sie haben dabei sicherlich die Kalifate aus dem 14. Jahrhundert in Südspanien im Auge. Aber das ist Geschichte. Wenn ich mir z. B. den Iran unter Khomeni anschaue, komme ich zu ganz anderen Schlussfolgerungen.

RG: Es ist wahr, dass es im Iran noch keine echte Demokratie gibt. Und dort wurden von der Revolution sicherlich viele Fehler begangen. Aber dafür gibt es eine Erklärung. Schuld daran ist der Druck von außen, dem der Iran ausgesetzt ist. Seit Beginn der ersten islamistischen Erfahrungen im Iran hat der Westen, allen voran die USA und die arabischen Länder, versucht, die Bewegung zu zerstören. Das Regime im Iran hat überlebt und hat jetzt genug Selbstvertrauen, um sich zu öffnen und zu reformieren. In wenigen Ländern gehen die Wahlen so frei und sauber über die Bühne wie der letzte Urnengang im Iran. Heute gibt es im Iran eine echte Verfassung, ein funktionierendes Parlament, eine freie Presse und die nicht legalen Parteien werden sicherlich bald zugelassen werden.

rw: Trotz allem ist für der Islamismus für viele Menschen gerade im Maghreb heute nur noch eine blutige grausame Ideologie, die für unbeschreibliche Massaker in Algerien verantwortlich zeichnet.

RG: Ich lebte von 1989 bis 1991 mit meiner gesamten Familie in Algier, um der Verfolgung durch die tunesische Regierung von Ben Ali zu entgehen. Ich hatte also das Glück, das gesamte demokratische Experiment dort auf der Seite der Führer der Islamischen Heilsfront (FIS) Abassi Madani und Ali Benhadj mitzuerleben. Diese Erfahrungen können durchaus als Vorbild dienen. Das Experiment hätte durchaus erfolgreich sein können. Die FIS-Leitung hat genug Anstrengungen unternommen, um Algerien zu einer Demokratie zu führen. Gegen die Spielregeln haben andere verstoßen, nämlich die Militärs. Sie organisierten das Spiel, und als die falschen gewannen, brachen sie es ab, in dem sie die Wahlurnen mit Panzern entführten. Die Verantwortung für die algerische Katastrophe liegt eindeutig bei den Militärs und nicht bei Madani und Benhadj. Die Armee stürzte das Land in die Tragödie. Und es ist durchaus berechtigt, zu fragen: Wer tötet unschuldige wehrlose Frauen und Kinder? Wer ist der Nutznießer dieser schrecklichen Verbrechen? Finden die meisten Massaker etwa nicht genau dort statt, wo die FIS einst am erfolgreichsten war? Warum töten Islamisten ihre eigenen Freunde und Familien? Warum gibt es keine Attentate in den Luxusstadtteilen von Algier, wie Hydra, wo viele hohe Militärs leben? Ich möchte nicht bestreiten, daß es einige islamistische Extremisten gibt. Aber diese Extremisten traten während der Demokratie nicht in Erscheinung. Abassi Madani und die FIS waren damals in der Lage sie zu kontrollieren. Erst als Säkularisten der Demokratie den Todesstoß versetzten und die FIS in den Untergrund drängten, gewannen die Extremisten an Boden.

rw: Glauben sie, dass die Islamisten eines Tages in der Lage sein werden, das nötige Vertrauen seitens der Europäer zu gewinnen? Wie könnten die Beziehung zwischen einem islamistischen Maghreb und der Europäischen Union aussehen?

RG: Wir teilen uns die gleiche Region, das Mittelmeer. Wir können hier keine Mauer bauen wie einst in Berlin. Wir sind zum Zusammenleben verdammt. Aber ein solches Zusammenleben kann nur funktionieren, wenn der Tausch Nord-Süd gerecht abgewickelt wird. Um dahin zu kommen, muß Europa einiges dazu lernen. Die Europäer agieren noch immer wie die Kolonialherren und nicht wie Partner. Wir Islamisten wollen Europa nicht boykottieren, wir suchen die Verständigung und nicht den Konflikt, aber ein Zusammenleben erfordert den gegenseitigen Respekt und die gleiche Rechte für beide Seiten. Wir wollen nicht länger in der Abhängigkeit von Europa leben. Der Maghreb ist mehr als ein Naherholungsgebiet für Touristen aus dem Norden. Das Hauptproblem ist das Unwissen, das in Europa hinsichtlich dem Islam vorherrscht. Der Islam wird in Europa als etwas gesehen, was die Freiheit, den Fortschritt, die Kunst und die Rechte der Frau bekämpft. Das ist nicht wahr.

Die Demokratie und die Freiheiten fallen in Europa mit dem Säkularismus zusammen. Wir Araber hatten hingegen unser Goldenes Zeitalter mit islamischen Regierungen. Und gerade durch die Marginalisierung des Islam begannen die Probleme. Die Gesellschaften wurden zusehends dekadenter und verkamen zu autoritären, diktatorischen Regimes. Unsere einzige Chance auf eine eigene Demokratie und eine eigene Entwicklung und Fortschritt liegt in einer neuen islamischen Gesellschaft. Die Rolle der Religion in unserer Geschichte ist nicht mit der zu vergleichen, die die Religion in Europa spielte. Gibt es einen Grund dafür den westlichen Weg einfach zu kopieren? Die Entwicklung im Westen ist kein allgemeingültiges Modell. Wir haben ein Recht auf einen eigenen Weg. Wir hoffen, dass die Europäer diesen Unterschied eines Tages verstehen. (Reiner Wandler, derStandard.at, 24.10.2011)