"Nicht immer ist etwas entweder wahr oder falsch", sagt Susan Lindquist. "Oft ist es nur eine Frage der Bedingungen."

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Standard: Sie wurden vor allem für Ihre Forschungen über Proteinfaltungen bekannt. Was passiert dabei und welche Auswirkungen hat das?

Lindquist: Bei diesem Prozess erhalten die Proteine, die so gut wie für alles in unserem Körper zuständig sind, ihre Struktur. Geht dabei etwas schief, dann funktionieren auch die Proteine nicht fehlerfrei. Solche Störungen sind unter anderem ziemlich sicher an der Entstehung von Krankheiten wie Morbus Alzheimer, Chorea Huntington und Morbus Parkinson beteiligt. Andere fehlgefaltete Proteine sind Prionen, die höchstwahrscheinlich zur Creutzfeld-Jakob-Krankheit führen.

Standard: Sie haben Ihre Arbeiten darüber in erster Linie an Hefe durchgeführt. Lässt sich - abgesehen von den erwähnten Erkrankungen - sonst noch etwas für den Menschen lernen?

Lindquist: Wir haben viel mit Eric Kandel zusammengearbeitet, dem brillanten Neurobiologen und Gedächtnisforscher. Kandel hat herausgefunden, dass eines der Proteine, das zentral bei der Gedächtnisbildung in unseren Neuronen ist, den von uns untersuchten Prionen der Hefe stark ähnelt. Dort bilden die Prionen epigenetisch vererbbare Elemente, die von der jeweiligen Mutterzelle an die Tochterzelle weitergegeben werden. Neuronen teilen sich nicht, dennoch scheint es bei ihnen ein ganz ähnlicher, sich selbst wiederholender Mechanismus zu sein, der zur Gedächtnisbildung beiträgt.

Standard: In Ihrem Vortrag bei der Konferenz der Europäischen Molekularbiologischen Organisation (Embo) in Wien behaupten Sie auf Basis Ihrer Forschungen, dass Lamarck letztlich recht hatte mit seiner Behauptung, dass erworbene Eigenschaften vererbt werden können.

Lindquist: Das stimmt. Ich sage aber auch nicht, dass Darwin unrecht hatte. Sie hatten beide recht. Mein Beitrag ist, dass die Umwelt über die Proteinfaltung sowohl die Entstehung wie auch die Vererbung neuer Eigenschaften bewirken kann. Bei Umweltstress - etwa durch Veränderungen der Temperatur, des ph-Werts oder Hunger - kann es zu Veränderungen der Proteinfaltungen führen, die wiederum genetische Mutationen begünstigen. Und auf diese neue genetische Variation wirkt dann wiederum die Selektion.

Standard: Aber Evolutionsbiologen würden dagegen darauf bestehen, dass DNA die wesentliche Trägerin der Erbsubstanz ist.

Lindquist: Das stimmt natürlich. Aber eine Frage ist: Wie kam es dazu und was war vorher? Ich biete Ihnen jetzt einmal eine extreme Spekulation: Ich denke, dass vor der Entstehung der DNA die Prionen, die ganz ohne DNA und RNA auskommen, eine entscheidende Rolle gespielt haben könnten.

Standard: Warum findet sich dann in Bakterien bereits DNA?

Lindquist: Bakterien zählen zu den am höchsten entwickelten Lebewesen des Planeten. Die haben sich seit Milliarden von Jahren entwickelt und haben sich extrem spezialisiert. Es würde mich nicht wundern, wenn die frühe Biologie noch etwas schlampiger, lockerer gewesen wäre und die Proteinfaltung damals geholfen hat, die Biologie, wie wir sie heute kennen, auf den Weg zu bringen. Das ist reine Spekulation - aber macht Spaß.

Standard: Lamarck schrieb sein Hauptwerk vor über 200 Jahren. Warum dauerte es so lang, dass man sich erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts wieder darauf besann?

Lindquist: Eine ähnliche Frage ließe sich auch für die Prionen stellen, die auch ganz lange unerforscht blieben. In der Biologie der Hefe gibt es ganz viele verschiedene Arten von Prionen. In der neuesten Arbeit haben wir 700 Hefestämme in der freien Natur untersucht und kamen auf 250 neue Prionen. Menschen, die Gesetze für eine richtige Vererbung aufstellten, wollten sicherstellen, dass dabei bestimmte Regeln Geltung haben. Es gibt diese Anekdote vom betrunkenen Mann, der mitten in der Nacht seine Schlüssel verloren hat. Er sucht die Schlüssel unter der Straßenlaterne, obwohl er sie ganz woanders verloren hat. Als er darauf angesprochen wird, sagt er: Aber hier sehe ich wenigstens etwas. Auf die Wissenschaft übertragen bedeutet das, dass man es sich oft leicht macht und an Dingen forscht, die sicher akzeptiert werden. Bei meinen wichtigsten Arbeiten hatte ich am meisten Mühe, dass sie von den Kollegen akzeptiert werden.

Standard: Warum ist das so?

Lindquist: Als ich als junge Wissenschafterin begann, las ich von den großen Entdeckungen und dachte, dass Wissenschafter wahnsinnig kreativ sein müssten und aufgeschlossen gegenüber dem Neuen. Ich war dann sehr überrascht als sich sah, dass die meisten Wissenschafter konservativ sind. Ich habe das auch bei meinen eigenen jungen Forschern beobachtet: Sie haben ein neues Ergebnis und sagen: Das kann unmöglich so funktionieren. Und dann wollen sie gar nicht mehr daran weiterarbeiten. Ich glaube, diese Risikoaversion kommt auch daher, wie wir die Leute ausbilden.

Standard: Was meinen Sie damit?

Lindquist: In unseren Seminaren lassen wir die Studenten bereits veröffentlichte Aufsätze lesen und stellen ihnen die Aufgabe, alle Fehler zu finden. Solche Übungen machen sie natürlich etwas ängstlich. Wenn sie vor der Wahl stehen, etwas zu vertreten, das womöglich falsch sein kann aber eine revolutionäre neue Erkenntnis wäre und etwas, was ganz sicher richtig, aber nicht so umwälzend ist, dann würden die meisten die absolute Wahrheit wählen.

Standard: Welche Rolle spielte das von Francis Crick und James Watson aufgestellte Zentrale Dogma der Molekularbiologie, dass epigenetische Mechanismen so lange unentdeckt blieben?

Lindquist: In einem sehr wohlmeinenden Artikel über unsere Arbeit, in dem diese als revolutionär bezeichnet wird, gibt es auch ein Zitat von jemandem, der mit Crick darüber gesprochen hat. Crick habe gemeint, dass unsere Behauptungen lächerlich seien. Oft genug stellt sich in der Biologie heraus, dass es oft nur eine Frage spezifischer Bedingungen ist, dass bestimmte Ergebnisse richtig sind. Nicht alles ist entweder wahr oder falsch. Ich kann einfach nicht verstehen, warum die Leute sich auch in der Wissenschaft immer so aggressiv verhalten und streiten müssen.

Standard: Haben diese Streitereien womöglich auch mit den knapperen Forschungsmitteln zu tun?

Lindquist: Ganz sicher, zumindest in den USA. Die Leute investieren hier sehr viel, um ihre eigenen Anträge durchzubekommen und zu zeigen, dass die anderen falsch liegen. Das erklärt einen Teil des schlechten Benehmens, das in den letzten Jahren nicht eben besser wurde.

Standard: Sie haben im Vorjahr von Barack Obama die National Medal of Science erhalten, die höchste Wissenschaftsauszeichnung der USA. Wie sehen Sie Obamas bisherige forschungspolitische Bilanz, die zuletzt sehr kritisiert wurde?

Lindquist: Ich konnte jedenfalls den Eindruck gewinnen, dass Obama sich für Wissenschaft sehr interessiert und sie auch wirklich schätzt und zu verstehen versucht. Bis jetzt haben die Präsidenten immer die Superbowl-Gewinner ins Weiße Haus eingeladen. Er hatte zum Beispiel die Idee, dass man die Kinder einladen könnte, die bei den nationalen Wissenschaftsbewerben gewonnen haben. Das Problem ist weniger die Obama-Administration als die politische Rechte in den USA, die ihn mit allen verfügbaren Mitteln scheitern lassen will und die - zumal über die Medien Rupert Murdochs - viel mehr Einfluss auf die Politik hat als sie haben sollte.

Standard: Was würde es für die Wissenschaft bedeuten, wenn die Republikaner das Weiße Haus erobern würden?

Lindquist: Es würde alles noch schlimmer werden. Führende Republikaner lehnen die Evolution ab und glauben nicht, dass sich das Klima erwärmt. Das ist insofern eine Schande, weil die Republikaner früher große Unterstützer der Wissenschaft waren und genau verstanden, wie sehr sie zur wirtschaftlichen Stärke beiträgt. Es ist schon Paradox: Die USA haben im 20. Jahrhundert ganz wesentlich zur Blüte der Molekularbiologie beigetragen und gerade jetzt, da wir dieses Wissen ernten und damit zum Beispiel Medikamente oder Biokraftstoffe herstellen können, gerade jetzt lassen wir nach.

Standard: Sind wir wirklich so nahe dran am Ernten?

Lindquist: Ja. Heute verstehen wir so viel mehr über die Biologie von Krankheiten wie Krebs, sodass es viele neue Möglichkeiten gibt, sie zu bekämpfen. Wenn man genug Fördermittel aufbringen könnte, dann würden in zehn Jahren Krebstherapien sicher völlig anders aussehen als heute. Wollte man der Krise der Forschungsförderung etwas Positives abgewinnen, dann wäre das wohl eine verstärkte Kooperation zwischen der Grundlagenforschung und der Pharmaindustrie. Diese ist schlecht beim Entdecken neuer Dinge und wir sind schlecht dabei, brauchbare Medikamente herzustellen. Wenn wir es aber schaffen, besser zusammenzuarbeiten, könnten alle davon profitieren.

Standard: Wie ist es um die Umsetzung Ihrer eigenen Forschung bestellt?

Lindquist: Ich habe selbst eine Firma mitgegründet, um Wirkstoffe gegen Krankheiten zu finden, die auf falschen Proteinfaltungen beruhen. Wir fanden einen solchen Wirkstoff, und es gelang uns, den an die Pharmafirma Pfizer zu verkaufen, was mich sehr stolz macht. Ich lernte dabei aber auch, wie kompliziert dieses Geschäft ist und wie anders es funktioniert als die Forschung.

(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 25./26. Oktober 2011)