Gleich vorab: Ich kenne Situationen, die jenen in Le Havre ähneln, mittlerweile zur Genüge, die Gesichter der Betroffenen: ernst, entschlossen, verängstigt, voller Hoffnung, eine eigenartige, ständig changierende Mischung. Ich kenne jene, die trotz aller Bemühungen abgeschoben wurden, und ich kannte manche, die sich widersetzten, mit Erfolg, da der negative Bescheid später aufgehoben wurde. Trotzdem kamen mir gleich zu Beginn des Filmes die Tränen, vielleicht deswegen, weil es so geballt über den Zuseher hereinbricht, dieses vermeidbare Ungleichgewicht unserer Welt. Natürlich ist der Film ein Märchen, dennoch, oder gerade deswegen, ist er herzzerreißend, im besten Sinne dieses Wortes.

Das Zögern Europas 

Da ist der kleine tapfere Schuhputzer, der mit seiner genügsamen Frau, quasi der Gegenspielerin der Fischersfrau aus einem anderen Märchen: das Paar, das entgegen aller Wahrscheinlichkeit dann happily ever after lebt. Da ist Idrissa, der Junge aus dem Container, der entkommt. Da sind die hilfreichen Nachbarn, die die Rolle der Feen übernehmen. Zu Beginn eine wunderbare Szene, in der die Frau des Schuhputzers in ihrer ärmlichen Absteige die Schuhe ihres Mannes reinigt, während er sich ausruht.

Gleich darauf wird dieses Bild vollkommener Intimität gebrochen mit der Szene, in der der Container, aus dem man Kinderweinen hört, gewaltsam geöffnet wird. Schwerbewaffnete, mit kugelsicheren Westen aufgerüstete Polizisten stürmen vor, als wären darin die gefährlichsten Verbrecher eingeschlossen, jederzeit bereit, sich über unsere heile Welt zu stürzen, um sie uns wegzunehmen. Die Rotkreuzmitarbeiter werden von ihnen in den Hintergrund gedrängt: Dieses Bild wirkt symbolisch für das Zögern Europas, wie es mit den Fragen der Migration denn eigentlich umzugehen gedenkt.

Helfen oder internieren, das ist hier die Frage. Dieses Bild ist eigentlich das entwürdigendste von allen, und zwar entwürdigend für die sogenannte zivilisierte Welt. Will Europa so ein luftdicht abgefüllter und schwerbewachter Container werden? Der Junge wird nur deswegen nicht an- oder sogar erschossen, weil der Inspektor des Films, ein Deus ex Machina, die Hand auf den Gewehrlauf des Polizisten legt.

Aki Kaurismäkis Film ist ein Märchen und gleichzeitig ein schonungsloses Offenlegen von Europas Versagen, vom aufklaffenden Abgrund zwischen Reich und Arm, und er führt vor allem eines sehr gekonnt vor: die Überschreitung unterschiedlichster Grenzen - der geografischen, der moralischen, der gesellschaftlichen. Die Geschichte jener, die in untragbarer Armut leben, aber dennoch bereit sind zu helfen; die von Menschenwürde mehr wissen und diese besser zu wahren verstehen als die wenig sympathischen Priester, die sich in philosophischen Gesprächen über Jesus ergehen, in feinem Zwirn, zigarrerauchend, während zu ihren Füßen der Schuhputzer ihre Maßschuhe reinigt, um mit seinem minimalen Verdienst den Jungen durchzubringen, oder der Nachbar, der in traditionellem Denunziantentum, das auch 1938 sehr aktuell gewesen wäre, den Schuhputzer verpfeift.

Der Film spricht Kinder und Erwachsene gleichermaßen an, er sollte in keinem Lehrprogramm fehlen. Er ist bewegend, aber vor allem beschämend: Diejenigen, die kaum etwas zu verlieren haben, sind zum Teilen und zum Verändern unserer Welt bereit, während eine kleine, die Gesellschaft durch ihren Besitz prägende Gruppe immer abgehobener agiert. Einer der wichtigsten Sätze, der sich sowohl auf Idrissas Schicksal, auf das Schicksal der Frau des Schuhputzers, die an Krebs erkrankt, als auch auf den Werdegang unserer Gesellschaft bezieht, ist zwar märchenhaft, aber auch realitätsbezogen: "Es gibt immer Hoffnung." Empört euch! (Julya Rabinowich, DER STANDARD - Printausgabe, 22./23. Oktober 2011)