Wer an der libyschen Grenze ankommt, wundert sich. Es reicht zu sagen, woher man kommt und wohin man will - schon ist man drin im ehemaligen Reich von Muammar al-Gaddafi. Den Pass will keiner sehen. Stempel des neuen Libyens gibt es eh noch keine und die alten in den Pass zu drücken, das geht gar nicht. Die Rebellen - oder besser: die neuen Machthaber - sehen verwegen aus in ihren zusammengestoppelten Uniformen. Sie vermitteln gerne eine Mitfahrgelegenheit.
Zuerst nahm uns ein alter Mann in seinem Pickup bis zu einem Kontrollpunkt an einer Kreuzung mitten in der Wüste mit. Er kam aus Tunesien, wo er Brot für die halbe Nachbarschaft eingekauft hat. Seit dem Beginn der Revolution bäckt der Bäcker in seiner Heimatstadt Nalut, 60 Kilometer von der Grenze entfernt, nicht mehr. Die Arbeiter sind ihm weggelaufen. Sie gehörten zu den Immigranten aus Tunesien und Ägypten, die im Februar und März zu Hunderttausenden das Land verließen. "Auch die restlichen Lebensmittel und selbst das Benzin kommt zu 100 Prozent aus Tunesien", wird uns erklärt.
Am Kontrollpunkt angekommen, suchen uns die Rebellen eine zweite Mitfahrgelegenheit. So lernten wir den Mann auf dem Bild kennen. Er heisst Khamis. Ihm fehlen - dank einer Gaddafi-Granate - an der linken Hand die ersten Glieder aller Finger. Rechts fehlt der halbe Unterarm und das rechte Auge fiel einem Splitter zum Opfer. Dennoch fährt er wie der Henker, schaltet, zündet sich Zigaretten an, telefoniert mit dem Handy. Und all das bei 130 Stundenkilometern durch die Wüste auf Straßen, die keine EU-Subventionen gesehen haben. Und immer gegen die Sonne. Aber Allah war mit uns. (Reiner Wandler, derStandard.at, 21.10.2011)