Vor kurzem trafen in Belgrad binnen weniger Tage völlig konträre Forderungen der zerstrittenen Weltmächte Europa und Amerika bezüglich des Internationalen Strafgerichtshofs ein. Zuerst verlangten die Amerikaner von Serbien/Montenegro, es solle das bilaterale Abkommen mit ihnen unterzeichnen, wonach US-Staatsbürger nicht an dieses Gericht ausgeliefert werden dürfen. Kurz darauf kam ein Brief von der EU, der Serbien/Montenegro an die Verpflichtungen erinnert, die es mit der Ratifizierung der Statuten des Gerichtshofs übernommen hat - das heißt, dass amerikanische wie auch andere Staatsbürger, gegen die eine Anklage vorliegt, ausgeliefert werden müssen.

Damit stehen wir vor dem ernsten Test, ob wir uns für das viel geschmähte Neue Europa entscheiden und dem US-amerikanischen Druck nachgeben, oder ob wir auf die Karte der alteuropäischen Werte setzen.

In die Sprache des normalen Lebens übersetzt, erinnert diese Situation an die von zerstrittenen Eltern, deren Kind erklären soll, wen es lieber hat - Mama oder Papa.

Ob das Abkommen unterschrieben wird oder nicht, hat keine praktische Bedeutung. Die USA haben schon bewiesen, dass sie für ihre Bürger kein internationales Gericht akzeptieren, egal ob eine Straftat auf dem Territorium eines anderen Landes begangen wurde. Denken wir nur an den Fall des amerikanischen Militärpiloten Richard Ashby, der im Winter 1998 mit seiner Maschine in Italien mit einer Seilbahn kollidierte, sie umriss und dabei zwanzig Touristen tötete. Obwohl die Untersuchung ergab, dass Pilot Ashby mit 1000 km/h flog (die US-Verteidigung rechnete das natürlich auf Meilen um, damit es weniger erschien), obwohl er die erlaubte Mindesthöhe um 500 Meter unterschritt, wurde er von einem amerikanischen Militärgericht freigesprochen.

Menschen sind Menschen, daher ist die Herkunft der Opfer natürlich unwichtig, dennoch muss ich erwähnen, dass keines der Opfer Amerikaner war, es waren Polen, Deutsche, Belgier, Italiener, Österreicher und ein Niederländer. Trotzdem - und auch ungeachtet der Tatsache, dass die Tragödie zu Friedenszeiten in Italien geschah - wurde der Pilot in den USA vor das Militärgericht gestellt, das ihn dann freisprach. Der Präsident und der Premier Italiens protestierten ein wenig, Europa war entsetzt, und dabei blieb es. - Denn es war eine Zeit der Liebe zwischen Europa und den USA.

Etwa vier Jahre später, gerade dieser Tage, stand vor einem italienischen Gericht der ehemalige Leutnant der ehemaligen Jugoslawischen Armee, Emir Sisic, der im Winter 1992 während des Krieges in Kroatien mit seiner Militärmaschine und in blindem Befehlsgehorsam einen Hubschrauber der Europäischen Gemeinschaft abschoss und fünf Menschen zu Tode brachte. Fast alle Opfer waren Italiener - daher fand die Verhandlung in Italien statt. Und schließlich wurde der Soldat Sisic, der widerspruchslos einem Befehl folgte, zu lebenslänglicher Haft verurteilt.

Ich selbst habe keinerlei Verständnis für blinden Befehlsgehorsam, doch ich muss gestehen, dass mir dieses Gerichtsverfahren unfair und die Strafe erschreckend hoch erscheint.

Wäre Sisic ein Pilot der US Air Force gewesen, hätte man ihn zumindest in Italien nicht vor Gericht gestellt, und ich bin ganz sicher, dass ihn ein - eventuelles - amerikanisches Gericht frei gesprochen hätte.

Inzwischen droht Amerika mit der Einstellung seiner Hilfe, falls wir das Abkommen nicht unterschreiben. Europa droht auch, aber für den Fall, dass wir unterschreiben.

Und nun sag ehrlich, wen hast du lieber - Papa oder Mama?(DER STANDARD, Printausgabe, 2.6.2003)