Ein Türschild weist den Weg zur Wohngemeinschaft des Vereins Struktur in einem Wiener Wohnhaus

Foto: derStandard.at/Schersch

Die Wohnküche dient als Treffpunkt

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Die Bewohner Willi, Christian, Leo und Paul

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Leo am Gulaschtopf

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Eine seiner Holzbrandmalereien

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Der Verein verleiht den Bewohnern immer wieder Urkunden, die stolz auf der Wand aufgehängt werden

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Glaube ist für einige der Bewohner wichtig

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Aller Anfang ist schwer

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Ordnung und Sauberkeit funktionieren ohne Putzplan

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Ein Blick in eines der Zimmer

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Wenn Besuch kommt, wird in der WG 18 aufgetischt. Eine grün karierte Tischdecke, Blumen, Kaffee und Kuchen laden zum Zusammensitzen ein. In der Dauer-Wohngemeinschaft in der Wiener Sechshauserstraße wohnen zwischen 37 und 70 Jahre alte Männer. Sie sind schwerst alkoholkrank. Die Wohnung war die erste Einrichtung für diese Patientengruppe in Österreich, mittlerweile gibt es noch eine zweite.

Fast völlig abstinent

Die Bewohner sind seit vier Jahren fast hundertprozentig Prozent abstinent. Das einfach klingende Erfolgsrezept: Gemeinschaft, soziale Integration, ein sicherer Wohnplatz. "Eines der Hauptprobleme für Alkoholkranke ist die Einsamkeit", erklärt Christian Wetschka vom Verein Struktur, der die WG betreibt. Die Idee einer Ersatzfamilie mit Menschen, die ihre Probleme gegenseitig kennen, geht auf: "Weltweit ist mir kein einziges Projekt bekannt, das ähnlich erfolgreich ist", schildert der Sozialpädagoge, der sich seit 25 Jahren mit Alkoholismus und Wohnungslosigkeit beschäftigt.

Gegen die Einsamkeit

Die fehlende Beziehung zu Menschen treibt viele Alkoholsüchtige immer weiter in die Sucht. Der einzige Kontakt zur Außenwelt beschränkt sich bestenfalls auf Therapeuten oder Ärzte. Willi, Neuzugang in der Wohngemeinschaft, hat deswegen auch seine Gemeindewohnung gegen ein Zimmer in der WG getauscht. "Hier kann ich mich nicht mehr verstecken", sagt er. Trotzdem – einfach ist es nicht, an die ständige Präsenz seiner Mitbewohner muss er sich erst gewöhnen, das gegenseitige Vertrauen fehlt noch, er fühlt sich unverstanden. Kompromissbereitschaft von allen Seiten ist gefragt und Toleranz.

Jeder hat seinen Platz

Die Männer schauen aufeinander – geht es einem nicht gut, spricht sich das schnell herum. Einer der ersten, der vor sechs Jahren einzog, ist der 45-jährige Paul. Er ist der Verlässliche in der Ersatzfamilie und der WG-Hausmeister. Will Christian Wetschka wissen, was in der WG los ist, ruft er ihn am Handy an. Anders Leo, der Künstlertyp – er will nicht immer erreichbar sein. In seinem Zimmer stapeln sich Gedichte und Holzbrandmalereien. "Wenn ich nicht schlafen kann, dichte ich", sagt der 53-Jährige. Er ist der freiwillige WG-Koch – ein Topf Gulasch am Herd zeugt von seinen Kochkünsten.

Leo ist der kreative Kopf, der Gedichte schreibt und malt
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Der 37-jährige Christian war schon in einigen Obdachlosenheimen, Entzüge in Kalksburg und Ybbs hätten ihm "nicht richtig geholfen". "Seit ich hier vor mehr als zwei Jahren eingezogen bin, habe ich keinen Tropfen mehr getrunken. Mein Leben hat sich total verändert", erzählt er. An der Wand hängt eine Urkunde, die er zu seiner zweijährigen Abstinenz bekommen hat. Offensichtlich fühlt er sich sehr wohl. Der Verlust eines geliebten Menschen hat ihn vor Jahren in die Sucht getrieben, dann verlor er seine Arbeit. Ein Schicksal, das viele erleben und das doch ein ganz persönliches Drama ist.

"Jeder Tag ein Kampf"

Obwohl es den Männern relativ gut geht, ist der Alkohol nie ganz aus der Welt. In den ersten Jahren gab es Rückfälle der Bewohner: ein Bewohner trank sechs Tage lang, ein anderer 17 Tage, deswegen ist die WG nur zu 99 Prozent abstinent. Krisen, die nicht nur der einzelne sondern auch die Gemeinschaft zu bewältigen hatte. Doch die Gruppe hat es geschafft. Das Zusammenleben funktioniert nur, wenn alle Bewohner auf Dauer trocken bleiben. "Jeder Tag ist ein Kampf", sagt Leo, der ohne Tabletten nicht schlafen kann.

"Soziale Ansteckung"

Eine Hausordnung gibt es in der Sechshauserstraße nicht. Sozialpädagoge Wetschka setzt stattdessen auf "soziale Ansteckung", ein Begriff aus der Sozialpsychologie: weint jemand – weinen wir mit, lächelt jemand - lächeln wir zurück. "Wir leben mit einer moralischen Krücke", sagt Leo und meint damit, dass sich die Bewohner gegenseitig Stütze sind und für einander Verantwortung übernehmen. Mindestens einmal pro Woche gibt es einen WG-Tag, an dem gemeinsame Unternehmungen auf dem Programm stehen.

Struktur durch Beschäftigung

Wichtig sind den Bewohnern aber auch ihre Jobs: ehrenamtlich arbeiten sie ein paar Mal pro Woche in verschiedenen Einrichtungen. Christian ist seit elf Jahren Ministrant in einer Kirche am Schedifkaplatz. Leo kümmert sich dreimal pro Woche um die Datenbank eines Museums, Paul restauriert Möbel in einer Werkstatt auf der Baumgartner Höhe. Die beiden sind in ihrer Freizeit begeisterte Mitglieder der Theatergruppe "Kreativ am Werk". Obwohl sie gerne hier wohnen: "Den ganzen Tag zuhause sein ist nicht gut", sind sich die Männer einig.

Medikamentöse Unterstützung

Ohne Medikamente, die die Lust auf Alkohol senken und Psychopharmaka geht es nicht. Im Hintergrund stehen Psychiater und Therapeuten, dennoch gibt es so wenig aufgezwungene Betreuung wie möglich. Auch Christian Wetschka schaut höchstens einmal pro Woche vorbei. "Die Gemeinschaft hier ist ein Schutz davor, dass jemand nicht wieder total in den Alkohol hinein kippt", sagt der Sozialpädagoge.

Er ist davon überzeugt, dass 80 Prozent aller Alkoholkranken in erster Linie psychische Probleme und Erkrankungen haben – allen voran Depressionen. Daher sei es für diese Menschen auch so schwierig Freundschaften und Beziehungen aufrecht zu erhalten. Ein weiterer Teufelskreis: Die Depressionen können erst dann medikamentös behandelt werden, wenn die Betroffenen nicht mehr trinken.

"Es ging schnell bergab"

Wetschka hat früher in einem Heim für wohnungslose Männer gearbeitet. "Es ging schnell bergab für viele", erzählt er. Denn das Stufenmodell, das in Österreich gang und gäbe ist – erst die Obdachlosigkeit auf der Straße, dann Therapie, Heimaufenthalt, später Startwohnung und am Ende das Ziel Gemeindewohnung ohne weitere Betreuung – sei alles andere als ideal für Alkoholkranke. "Viele sperrten sich in ihren Wohnungen ein oder gingen aus Einsamkeit ins Wirtshaus oder an den Würstelstand um ein bisschen Gesellschaft zu haben." – Keine Orte, wo suchtkranke Menschen gut aufgehoben sind.

"Mir ist aufgefallen, dass jene, die länger im Heim waren manchmal trocken wurden und selbst die schwer kranken Patienten mit frühkindlichen Vorschädigungen und Entwicklungsstörungen soziale Fähigkeiten hatten", schildert der Leiter des Wohnprojekts. So kam es, dass er gemeinsam mit einem Team aus medizinischen und pädagogischen Suchtexperten den Verein Struktur gründete. "Housing First", ein neuer Ansatz aus den USA, war das Vorbild: zuerst ein sicherer Wohnplatz und soziale Integration, dann Therapie. Dafür musste Wetschka auch in Kauf nehmen, dass die meisten Bewohner beim Einzug tranken, denn Abstinenz wird nicht als Voraussetzung verlangt. Mittlerweile weiß er: es braucht ein, zwei Jahre bis geklärt ist ob jemand in der WG leben möchte und so lange dauert es bis die WG größere Erfolge zeigt. (Text: Marietta Türk, Fotos: Ursula Schersch, derStandard.at, 28.10.2011)