Josef Bierbichler.

Foto: Markus Tedeskino / Suhrkamp

Josef Bierbichlers Romandebüt Mittelreich, aus dem der Schauspieler am Mittwoch am Landestheater Niederösterreich liest, ist ein autobiografisch grundierter Aufriss von sechzig Jahren deutscher Zeitgeschichte (ab 1914). "Ich hab versucht, Deutschland aus der Sicht eines Dorfes zu beschreiben", so Bierbichler in einem noch vor Erscheinen des Buches geführten Interview mit dem Standard. Ein Seewirtshaus in Bayern mitsamt einem farbenprächtigen Figurenpersonal repräsentiert und reflektiert darin die Auswüchse zweier Weltkriege und ihre Nachwehen bis herauf zur Flowerpower-Bewegung der 1970er-Jahre.

Dieser als Landwirtschaft und Wirtshaus geführte "Seewirt" (im echten Leben heißt Bierbichlers Gasthof "Fischmeister" und liegt am Starnberger See) versammelt Menschen, die das Jahrhundert so nach und nach ausspuckt: Kriegsheimkehrer, arbeitslose Thronfolger, KZ-Häftlinge, Flüchtlinge aus dem Osten, Sommerfrischler (vulgo "Stadterer"), einzelgängerische Künstler und natürlich die sie mit undefinierter Freundlichkeit beherbergenden Bauern und deren Nachbarn aus umliegenden Dörfern. Was als sperriger, auch abschweifender Heimatroman beginnt, in dem der überdauerte Faschismus in Alltagsszenen durchdringt (Faschingsbälle mit Hitlermasken; Wagnergesänge zur Sturmabwehr), öffnet sich in der zweiten Hälfte in ein luftigeres, weniger metaphernschweres Erzählen mit umgangssprachlichen Anklängen. Zwei Seewirt-Generationen sind zentral: Vater Pankraz und Sohn Semi Birnberger (Bierbichlers Alter Ego), beide auf ihre Weise keine geborenen Wirte ("Mein Los ist der Besitz").

Der Roman ist reich an abenteuerlichen Darlegungen mentalitätsbedingter Standpunkte, etwa die Abneigung gegenüber eindringlichen Hauptstädtern (deren Liegeplätze am See mit Jauche begossen werden) oder krachledernen Dialogen unter Bauern. In solchen "Szenen" blitzen dann auch Achternbusch-Filmbilder auf.

Nach dem Prosaerstling Verfluchtes Fleisch vor zehn Jahren ist Josef Bierbichler mit Mittelreich nun zum Suhrkamp-Autor aufgestiegen. Das Feuilleton ist noch unentschieden, ob es ihm, dem großen Charakterschauspieler, dies verzeihen wird. (afze, DER STANDARD/Printausgabe 19. Oktober 2011)