Andrea Zanzotto: Schuf Gedichte zum Staunen.

Foto: Giovanna Borgese

Treviso - Der italienische Dichterkollege Pier Paolo Pasolini begrüßte das Erscheinen von Andrea Zanzottos zentralem Gedichtband La Beltà (Die Pracht) 1968 ausdrücklich: Er gestand anerkennend seine Ratlosigkeit. "Man weiß nie," schrieb Pasolini mit Blick auf Zanzottos Sprachgebilde, "in welchem semantischen Feld man sich befindet: Der Leser gerät in einen beispiellosen Zustand der Entfremdung von seinen Gewohnheiten." Und Eugenio Montale rühmte den Venetier Zanzotto wie folgt: Dessen Lyrik sei ein "wahrer Kopfsprung in jenen Vor-Ausdrucksbereich, der dem artikulierten Wort vorausgeht."

Zanzottos zähes Ringen mit der Übermacht der Sprache gehört zu den großen poetischen Leistungen des 20. Jahrhunderts. Die Suchbewegungen dieses Dichters nehmen in der Landschaft des Veneto ihren Ausgang. Ihr Ton ist die offene Stimmung: Ruhelos nähert sich Zanzotto in weit ausschwingenden Versen einer Erfahrungswelt an, deren Wahrnehmungsinhalte nicht mehr an herkömmlichen Bedeutungen festkleben.

Als Zanzottos Dichtungen ab den 1980er-Jahren den deutschen Sprachraum erreichten (in den famosen Nachschöpfungen etwa Peter Waterhouses), reagierte man verblüfft: Der Sohn eines Miniaturen- und Landschaftsmalers, der sich 1943 den Partisanen anschloss und in späteren Jahren als Lehrer zurückgezogen arbeitete, versetzte die italienische Verssprache in ein unaufhörliches Stolpern und Fließen. Sprache, wie Zanzotto sie verstand, entsagt jeder Definitionsmacht.

Um der Vernutzung durch Konsum und Verwaltung zu entgehen, verfiel der psychoanalytisch geschulte Dichter zeitweise sogar ins Basteln und Kleben, ins Lallen und Zungensprechen: Kaum eine Quelle, die Zanzotto nicht anzuzapfen verstand. Er dichtete Quasi-Kinderverse. Er besang den Milupa-Brei, zerschnitt Hölderlin-Verse und bediente sich ausgiebig bei Werbebotschaften, um zu jener "Winzlings"-Form zurückzufinden, die funkelnd und flunkernd eine ganze Welt zusammensingt und -reimt: "Schneewittchen Sonnwittchen Nivea / Und schwupp sind die Winzling-linge / Im Supersüßmarkt drinnen ..."

Der Träger des Tübinger Hölderlin-Preises 2005 suchte in den Bereichen des Nicht-Wissens und des Unartikulierten, des Anders-Wahren und Halb-Unsinnigen nach poetischem Material. Da ihm die Welt zu leicht verfügbar geworden schien, steuerte er den Mond an. Nur dass die Erde dieser neue Mond hätte werden sollen.

Zanzotto, dessen deutsche Übersetzungen u. a. bei den Verlagen Folio und Urs Engeler Editor greifbar sind, ist 90-jährig in einem Krankenhaus in Conegliano bei Treviso gestorben. (Ronald Pohl, DER STANDARD/Printausgabe 19. Oktober 2011)