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Palästinensische Freigelassene bei ihrer Einreise in den Gazastreifen.

Foto: EPA/KHALED ELFIQI

Zur Person: Margret Johannsen ist Senior Research Fellow am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen den Nahen und Mittleren Osten, Rüstungskontrolle und Terrorismus.

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Der fünf Jahre lang im Gazastreifen gefangene israelische Soldat Gilad Shalit ist seit heute wieder in Israel. Im Gegenzug für seine Freilassung hat Israel 477 palästinensische Häftlinge entlassen. Insgesamt sollen 1027 Häftlinge freikommen. Der Gefangenenaustausch stärke die Hamas im innerpalästinensischen Konflikt. Die Erwartungen des Nahost-Quartetts, das den Friedensprozess noch im Oktober wieder auf Schiene bringen will, gingen "an der Realität vorbei", sagt Margret Johannsen vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.

derStandard.at: Am 26. Oktober will das Nahost-Quartett wieder einen Versuch starten, den Friedensprozess in Gang zu bringen. Ist das nach dem Gefangenenaustausch aussichtsreicher?

Johannsen: Nein, das glaube ich nicht. Es steht jedenfalls fest, dass durch den Gefangenenaustausch die Hamas in dem innerpalästinensischen Verhältnis gestärkt wurde. Nach der Rückkehr Abbas aus New York, wo er eine Anerkennung des Staates Palästina von der UN gefordert hatte, ist er in Ramallah in der Westbank gefeiert worden und er schien an Rückhalt in der Bevölkerung gewonnen zu haben. Dieser Push für die Fatah ist jetzt durch diesen Gefangenaustausch aufgehoben worden. Zwischen den beiden rivalisierenden Parteien Hamas und Fatah ist wieder ein Gleichgewicht hergestellt worden. Dieses rivalisierende Verhältnis verkompliziert natürlich die Wiederaufnahme von Friedensgesprächen.

derStandard.at: Warum erzielt das Nahost-Quartett keinerlei Erfolge?

Johannsen: Die Erwartungen des Nahost-Quartetts, das kurzfristig Ergebnisse fordert, gehen an der Realität vorbei. Der gesamte Friedensprozess, angefangen von Oslo 1993 über die Roadmap 2003 und Anapolis 2005, krankt daran, dass die externen Akteure aber auch Israel und Palästina niemals etwas wie einen Vermittlungsmechanismus ins Leben gerufen haben, der dann angewandt werden könnte wenn unterschiedliche Meinungen über die Interpretation von Vereinbarungen auftreten. Ein Mechanismus, der eine Art von Monitoring darstellen könnte und den Parteien präzise zurückmeldet, wann Verstöße gegen Vereinbarungen vorliegen und wann Fort- oder Rückschritte gemacht werden und wer dafür verantwortlich ist. Und der nicht diejenigen belohnt, die den Prozess stören. Das ist in den vergangenen Jahren geschehen und daraus hat das Quartett aber keine Konsequenzen gezogen. Das Quartett muss ganz deutlich machen, was die entscheidende Hürde für die Wiederaufnahme von Verhandlungen ist – und das ist die Fortsetzung des Siedlungsbaues in den besetzten Gebieten.

derStandard.at: In dieser Frage ist Israel weiterhin zu keinen Zugeständnissen bereit.

Johannsen: Das ist genau der Punkt. Wenn Israel hier nicht zu Zugeständnissen bereit ist, wird das alles nichts. Die jetzige Autonomiebehörde kann von dieser Forderung nicht mehr abweichen. Sie hat einen sofortigen Siedlungsstopp gefordert – und das ist eine bescheidene Forderung. Darin ist nicht enthalten, dass die Siedlungen zurückgenbaut werden sollen. Die Roadmap sieht vor, dass die illegalen Siedlungen zurückgebaut werden. Das ist kaum geschehen. Die Autonomiebehörde kann von dieser Forderung nicht abweichen, ohne ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren.

derStandard.at: Hat Israel mit dem Gefangenenaustausch innenpolitisch einen Erfolg erzielt?

Johannsen: Die israelische Regierung mit Netanjahu an der Spitze kann einen Erfolg verbuchen. Die Mehrheit der israelischen Bevölkerung hat den Gefangenenaustausch befürwortet – unter all den Bedingungen, die vereinbart wurden. Es gibt ein Einsehen auf israelischer Seite, dass Shalit nicht mit einer militärischen Operation hätte befreit werden können, sondern dass dadurch sein Leben gefährdet gewesen wäre. Netanjahu könnte, wenn er wollte, die Sympathiewelle, die entstanden ist, nutzen, um den Palästinensern entgegenzukommen. Aber nach meiner Einschätzung will Netanjahu keine Friedenslösung, sondern die Zeit für sich arbeiten lassen, mehr und mehr Siedlungen bauen und auf diese Art und Weise seine Koalition zusammenhalten.

derStandard.at: Der Fatah-Veteran Marwan Barghouti kam entgegen der ursprünglichen Pläne nicht frei, die Hamas soll dagegen gewesen sein. Verhärtet das nicht noch mehr die ohnehin verfahrenen Fronten?

Johannsen: Nach meinem Informationsstand – aber das ist auch nur dritte Hand – stand Barghouti mit auf der Liste. Die Hamas wollte ihn dabeihaben. Die Hamas hat großen Wert auf Ausgewogenheit bei der Liste der freizulassenden Häftlinge gelegt. Barghouti war lange im Gespräch. Es kann sein, dass er nicht die prioritäre Position auf der Liste hatte. Das würde ich nicht in Abrede stellen.

Barghouti ist ein populärer palästinensischer Fatah-Politiker, dessen Freilassung durchaus dazu beitragen hätte können, dass die Popularität der Fatah wieder steigt. Allerdings war die Popularität der Fatah – zumindest bis zum Gefangenenaustausch – ohnehin höher als die der Hamas. Die Hamas verliert aufgrund ihrer rigiden, autoritären Herrschaft im Gazastreifen an Popularität. Dieser Gefangenenaustausch gibt ihr aber ganz sicherlich Rückenwind.

derStandard.at: Hat Israel nach der Freilassung Shalits weniger zu verlieren als vorher – Stichwort Militäraktionen gegen Gazastreifen?

Johannsen: Ja, natürlich hat Israel weniger zu verlieren. Israel musste ja immer fürchten, dass eine Militäraktion im Gazastreifen zum Tod von Gilad Shalit führt. Dieser Mann war für die Hamas ja Gold wert. Insofern hätten sie wahrscheinlich alles für seine Sicherheit getan. Das Motiv der Rücksichtnahme auf Shalit gibt es für Israel zwar nicht mehr, aber wahrscheinlich war Shalit gar nicht gefährdet – auch nicht durch den Gaza-Krieg. Es gibt aber andere Gründe, die gegen eine israelische Militäraktion im Gazastreifen sprechen: Israel würde sich immer weiter isolieren. Was soll Israel die Ausschaltung der politischen Köpfe der Hamas bringen. Es würden andere nachwachsen. Militärisch ist die Hamas nicht zu besiegen. (mka, derStandard.at, 18.10.2011)