Timothy Snyder lehrt an der Yale University. Im kommenden Jahr wird er beim Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien arbeiten. Dort wird am Donnerstag auch sein Buch vorgestellt.

Foto: Michael Freund/STANDARD

... denkt über die Bewertung der Verbrechen Hitlers und Stalins nach. Mit ihm sprach Michael Freund.

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STANDARD: In Ihrem Buch Bloodlands behandeln Sie Europa zwischen Hitler und Stalin und schildern die Gesamtheit der Verbrechen, die an der Zivilbevölkerung begangen wurden. Die Rezensionen waren sehr positiv, in einer war allerdings zu lesen, dass Sie nicht auf den deutschen Historikerstreit um die Einzigartigkeit des Holocaust eingegangen sind. Gab es einen besonderen Grund dafür?

Snyder: Im Historikerstreit hatte jeder Unrecht. Jürgen Habermas hatte seinerzeit einen Rahmen vorgeschrieben, innerhalb dessen die Diskussion stattzufinden hatte. Es gab also eine ideologische Zensurhaltung, kombiniert mit relativ wenig Sachwissen. Es kam in Deutschland aber seither zu einem unglaublichen Fortschritt, was allein den Zuwachs an Wissen über jene Zeit angeht. Durch die fortgesetzte Arbeit am Thema wurde der Holocaust einerseits noch schlimmer, andererseits plausibler als Faktum. Wenn man ihn als metaphysisch einzigartig betrachtet, entzieht man ihn der Geschichte - und was kann man dann noch machen?

STANDARD: Was halten Sie von der Kritik, dass der Holocaust heute als Waffe von verschiedenen Seiten in politischen Debatten benutzt wird?

Snyder: Der Holocaust fungiert als nationaler Mythos in Israel, so wie der Zweite Weltkrieg als nationaler Mythos in Russland fungiert oder Katyn in Polen. Das ist eine der Arten, in der der Holocaust Geschichte geworden ist: indem er nationale Mythen produziert hat. Viele Leute sind unsicher, was sie von diesem Geschichtsphänomen halten sollen, weil sie zu wenig wissen, was sonst alles an Untaten vorgefallen ist. Was Bloodlands gezeigt hat, ist, dass der Holocaust bei weitem das schlimmste Verbrechen war, nicht nur wegen des Rassenmotivs, sondern weil mehr Menschen darin umgekommen sind als in jedem anderen deutschen oder sowjetischen Verbrechen. Das kann man aber nur sagen, wenn man sie alle betrachtet. Ich denke, man soll sie alle betrachten, damit man sie werten und gewichten kann - viele Forscher scheuen sich aber davor.

STANDARD: Unter Linken gibt es einige, die Stalins Verbrechen entweder abstreiten, oder nicht wahrhaben wollen, dass es Tötungsquoten für die Beamten gab, oder sagen, dass das eine oder andere aus einem höheren Grund passiert ist.

Snyder: Das gibt es noch vielfach. Gerade dieses „Für einen guten Zweck"-Argument hört man. Das waren die Argumente der Machthabenden, und sie sind einfach nicht wahr. Die Sowjets haben den Krieg nicht wegen dieser Aktionen gewonnen ....

STANDARD: ... sie haben ihn trotz dieser Taten gewonnen.

Snyder: Ja. Und sogar wenn es so gewesen wäre, ist das kein historisches Argument, sondern ein metaphysisches. Wenn die Nazis die bad guys waren, dann müssen wir auch good guys gehabt haben, also die Sowjets. Und was immer wir über sie sagen, so schlimm können sie nicht gewesen sein, weil die wirklich Schlimmen waren die Nazis. Wir haben immer noch diese Mentalität, dass man gegen die eine und daher für die andere Seite sein muss. Es war für uns Amerikaner schwer zu akzeptieren, was in der Sowjetunion wirklich vorging. Zum Zeitpunkt als die USA sich mit den Sowjets verbündeten, hatten die mehr Menschen getötet als die Nazis.

STANDARD: In den USA war man kaum über die Verbrechen der Sowjets in den Dreißigerjahren, insbesondere den systematisch herbeigeführten Hungertod von Millionen in der Ukraine, informiert - auch nicht durch die New York Times, die immerhin einen Korrespondenten in Moskau hatte.

Snyder: Dazu muss man sagen, dass dieser Reporter ein Apologet Stalins war, der das Modernisierungsargument schluckte. Außerdem wollte er wahrscheinlich den Zugang zu seinen Quellen nicht verlieren. Die Times veröffentlichte aber mindestens zwei Beiträge, ohne Namenszeile, die die Lage ziemlich gut schilderten; nur waren das Einspalter irgendwo hinten im Blatt. Die amerikanischen - und englischen - Leser hatten wenig Ahnung, was in der Sowjetunion wirklich passierte. Und als wir Alliierte wurden, lief die Hollywood-Propagandamaschine an mit ihren pro-sowjetischen Filmen. Erst im Kalten Krieg begann die Kritik an Moskau - und da war die Situation dort nicht mehr so extrem schlimm.

STANDARD: Nach dem Tod Stalins 1953 war das Allerschlimmste vorbei. Es gab aber noch Ungarn 1956 oder Tschechoslowakei 1968.

Snyder: Da gab es bis zu Tausende von Toten, aber nicht Hunderttausende. Die Sowjetunion wandelte sich von Massentötungen plus Gulag zu Gulag. Weniger wurden umgebracht, mehr in die Gulags geschickt. Das Herz der Dunkelheit aber war der vorsätzliche Hungertod vor allem in der Ukraine gewesen, und die vorsätzlichen massenhaften Erschießungen.

STANDARD: Ihre nächste Arbeit war ein Buch, das Sie mit dem im August 2010 verstorbenen Historiker Tony Judt zusammengestellt haben. Wie kam es dazu?

Snyder: Wir haben uns 2009 fast jede Woche getroffen. Das Buch wird im Wesentlichen aus Abschriften unserer Gespräche bestehen, die ich manchmal durch eigene Beobachtungen ergänzt habe. Das Ganze kam zustande, als ich merkte, dass Tony, der an einer fortschreitenden Nervenerkrankung litt, nicht mehr seine Hände benutzen, nicht mehr schreiben konnte. Wir sind die einzelnen Kapitel durchgegangen und haben das Buch noch im Juli 2010 gemeinsam fertigstellen können - was wir gar nicht mehr gehofft hatten.

STANDARD: Was waren die Themen?

Snyder: Es ging unter anderem um Marxismus und Liberalismus, Intellektuelle in der Öffentlichkeit, die Einheit Europas, Keynes vs. Hayek und anderes mehr. Es ist sozusagen sein Vermächtnis als Zeitgeschichtswissenschafter. . Er hat sich zum Schluss von der Zusammenarbeit mit mir emanzipiert und auf eigene Faust bis zu seinem Tod autobiographische Essays diktiert, für die New York Review of Books, über sehr persönliche Anliegen.

STANDARD: Sie verfolgten währenddessen einen Ihrer Forschungsschwerpunkte weiter und werden einen Band mit Beiträgen über den Holocaust veröffentlichen.

Snyder: Ja, ein Teil ist schon geschrieben und publiziert, Manches entsteht erst. Eines der Themen, um die es geht, ist der Antisemitismus. Wenn er für die Ereignisse hauptverantwortlich gemacht wird, dann muss man sich fragen, wie Polen, Ukrainer, Juden, Litauer in den hauptsächlich betroffenen Gebieten 500 Jahre lang relativ friedlich zusammenleben konnten. Was nicht heißen soll, dass es damals keinen Antisemitismus gegeben hat ....

STANDARD: .... es gab immer wieder Pogrome ....

Snyder: .... ja, aber alle Pogrome vor dem Ersten Weltkrieg zusammengezählt haben weniger Tote zur Folge gehabt als eine Woche im Oktober 1941. Die Pogrome waren schrecklich, die Reaktionen waren heftig, aber im Vergleich zu später waren die Mordtaten sehr wenige. In den Zwanzigerjahren nach dem Ersten Weltkrieg kam es zum Mord an Zehntausenden Juden in der Ukraine. Das waren keine Pogrome, sondern die Taten verschiedener Armeen, die durch das Land stürmten und sich an jüdischem Eigentum und Leben vergriffen. Juden leiden, wenn es kein Gesetz gibt. Das gilt sogar für den Zweiten Weltkrieg: In Ländern, in denen es noch irgendwelche Gesetze gab, hatten die Juden größere Überlebenschancen.

STANDARD: Das galt womöglich sogar für Deutschland.

Snyder: Die Hälfte der deutschen Juden überlebte irgendwie - weil sie mit jemandem verheiratet waren, weil sie emigrierten. Es war immer noch schlimm genug. Aber wenn man erstmal den polnischen Staat zerstört und dann sagt, für diese Leute gilt kein Gesetz, sie haben keinen Schutz - das hat ganz andere Folgen. Solche Details werden übersehen, wenn man nur am Konzept des Antisemitismus festhält. Er ist eine Idee. In der Postmoderne mag man Ideen. Doch sie sind nicht das Einzige, auf das es ankommt.

STANDARD: Was kam, um das vorige Beispiel aufzugreifen, in der Ukraine noch dazu?

Snyder: Es gab sicher das Stereotyp, das die Juden Kommunisten waren. Und es stimmt, dass Juden in osteuropäischen kommunistischen Parteien überrepräsentiert waren. Aber diese Parteien waren zahlenmäßig sehr klein, inklusive die Bolschewisten selbst.

STANDARD: Aber sie waren sehr sichtbar.

Snyder: Es gibt da ein Problem: Dass viele Kommunisten Juden waren, heißt nicht, dass viele Juden Kommunisten waren.

STANDARD: Wie hat der Rest der Bevölkerung das wahrgenommen?

Snyder: Als Historiker halte ich mich zunächst einmal an Tatsachen. Eine Tatsache ist, dass die große Mehrheit derer, die die große Hungersnot in den Dreißigerjahren herbeigeführt haben, indem sie etwa das Getreide von den Bauern requiriert haben, Ukrainer waren. Der große stalinistische Terror wiederum begann unter einem Regime, in dem Juden überrepräsentiert waren, doch an seinem Ende war das vorbei, da die Juden selbst liquidiert wurden.

STANDARD: Spiegelte sich das in der Wahrnehmung der Betroffenen?

Snyder: Nein, das war alles kaum bekannt. Wenn wir versuchen herauszufinden, was die Leute über Derartiges dachten, dann wird das sehr schwierig aufgrund des Einflusses der Nazis. Sie hatten diese sehr fest verankerte Idee des „Judäo-Bolschewismus". Mit dieser Propaganda kamen sie nach Osteuropa und haben sicherlich viele Menschen überzeugt, die vorher nicht so gedacht haben mögen. Und noch etwas: Die Meisten, die in der Ukraine mit den Sowjets kollaborierten, waren keine Juden. Als die Deutschen dann das Land besetzten und sagten, alle Kollaborateure seien Juden, hatten die ukrainischen Kollaborateure einen Ausweg: Sie waren ja keine Juden. Die Gleichsetzung brachte also auch eine Entschuldigung für ein bestimmtes Verhalten.

STANDARD: Parallel zu dieser Forschung arbeiten Sie schon an Ihrem nächsten Projekt, Brotherlands. Worum geht es da?

Snyder: Es geht um Familien, in denen Brüder oder auch Schwestern verschiedene nationale Identitäten wählen und in deren Bewegungen wichtige Stellungen einnehmen. Es geht um Nationalität als Politik, als Wahl; um die Antwort auf die Frage, warum wir die Nationen haben, die wir haben. Die Beispiele reichen von ca. 1860 bis 1960. Der wichtigste Zeitraum ist das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts, weil damals die Richtung hin zu Nationalstaaten klar war, aber unklar, wie die aussehen würden.

STANDARD: Es handelt also nicht von der Gegenwart.

Snyder: Nein, es ist eine Ergänzung der Begriffe Vater- bzw. Mutterland: Diese Metaphern bedeuten, dass man die Nation erbt. Die Idee hier ist, dass jemand sie macht, gestaltet, und sein Bruder kann gleichzeitig eine andere Nation machen.

STANDARD: Haben Sie genügend solche Beispiele bei der Hand?

Snyder: Ja, ich habe mehr als zehn solche Verwandtschaften ausfindig gemacht, die als Fallstudien relevant sind. Es sind nicht zufällige Menschen, sondern eben solche, die bedeutsam wurden: Dichter, Präsidenten etc. Die Bedingung war, dass sie im selben Haushalt aufwuchsen und sich dann erst für entgegengesetzte Lebensläufe entschieden. Ein Beispiel habe ich schon als eigenes Buch veröffentlicht, weil das Material so reichhaltig war: Der König der Ukraine (über Wilhelm von Habsburg, der vor dem Ersten Weltkrieg dazu erzogen wurde, einmal über einen Nationalstaat zu herrschen; Zsolnay 2009; Anm.). Das wird Kapitel vier in Brotherlands. (Das Gespräch führte Michael Freund. Landfassung des Interviews der STANDARD-Printausgabe vom 18.10.2011.)