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"Wir müssen uns solidarisieren. Wir sind die 99 Prozent", hieß es heute auch in Wien.

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Die Demonstrationen auf dem Wiener Heldenplatz verliefen friedlich.

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An Themen zu Kritik mangelte es nicht. Multi-Kulti und Solidarität.

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"Empört Euch!", fordert Stéphane Hessel in seinem im Jahr 2010 erschienenen Buch. Und es ist, als hätten sie ihn gehört. "Yes, we can" war gestern. Heute heißt es: "Nein, wir können nicht mehr." Tausende Aktivisten machen seit Wochen vor allem die Finanzindustrie dafür verantwortlich, dass immer mehr Amerikaner - "99 Prozent" - verarmen. Sie protestieren gegen gierige Finanzhaie, Massenarbeitslosigkeit und zunehmende Armut in einem Land, das ihnen eigentlich unbegrenzte Möglichkeiten verspricht. Verantwortlich dafür sei vor allem das "eine Prozent" - die reichsten Amerikaner. Der 15. Oktober wurde zum internationalen Aktionstag ausgerrufen - und damit rollte die Protestwelle auch über Österreich.

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Wien, Heldenplatz. Auf ihren selbst gemalten Schildern steht "Bankiers und Spekulanten sind Sozialschmarotzer" oder "So nicht, so überhaupt nicht, so schon gar nicht". Unter der Statue von Erzherzog Karl versammeln sich die ersten Demonstranten. Christian, 27, ist eigens aus Mürzzuschlag angereist. In fleckigen Jeans, Rollkragenpulli und Palästinensertuch über dem Kopf. Jetzt trägt er eine Totenmaske vor dem Gesicht, eine Bierdose in der einen, die Fahne der steirischen Piratenpartei in der anderen Hand. Er will für seine "Brüder und Schwestern" kämpfen, wie er sagt. Das tut er bereits seit den Morgenstunden. Schon um 6.45 Uhr hat er vor dem Parlament die Straße blockiert. Eine Polizeistreife habe ihm etwas verblüfft mitgeteilt, dass die Aktionen in Wien erst um 12 Uhr starten würden und ihn verbal attackiert. "Arschloch", sollen sie ihn genannt haben, empört sich der Steirer und zieht an seiner Zigarette. Doch nichts könne ihn aufhalten, denn "wir sind Nu York", sagt er in breitem Dialekt.

Der Platz füllt sich langsam. Die Aktivisten werden aufgefordert, sich an den Händen zu nehmen und einen Kreis zu bilden. Weiter und größer soll er werden, dann doch wieder etwas enger - aus Mangel an Teilnehmern. Zur Einstimmung wird gesungen. Ein Megafon wird durch das Rund geschickt, einer nach dem anderen darf sagen, was ihm oder ihr am Herzen liegt. "Ho", sollen die anderen rufen und die Sprechenden ruhig unterbrechen, um Zustimmung zu signalisieren. Und es werden viele "Ho's" werden. Aus dem Kreis der Alternativen, Althippies und "Empörten" kommen viele Themen, die aufregen: Investoren, die Poker mit den Bürgern spielten, eine Finanzaristokratie, die von der Politik gestärkt werde, die Mächtigen, die die Bürger aussaugten und Konzerne, die die Welt führten - um nur einige zu nennen.

Das "Gegengift" ist schnell gefunden. In diesem "historischen Augenblick" müssten die Menschen weltweit mit einem Herzen denken, sich zusammenschließen und - das kommt fast jedem zweiten Redner von den Lippen - einander lieben. "Wir müssen uns auf der Straße zulächeln, wir müssen uns unsere Liebe zeigen", so eine Aktivistin mit buntem Käppi. Aramis, er wird sich später nur mit einem "danke, dass ihr alle gekommen seid", zu Wort melden, hebt die Arme, faltet sie über seinem Kopf und nickt andächtig.

Ahnen und Ungeborene

Eine Regenbogenfahne mit der Aufschrift "Peace" flattert im Wind. "We are the world, we are the champions", stimmt eine junge Frau an. Applaus, wenn auch nur verhalten. "Danke Feuer, danke Luft, danke Wasser. Wasser, danke, dass es dich gibt, danke Erde...". Ein Mann hält eine Brandrede auf die Schönheiten der Welt. Ein anderer bedankt sich bei den Ahnen und Ungeborenen, die seiner Ansicht nach im Geiste anwesend sind, setzt aber - angesichts der etwa 200 bis 300 körperlich Anwesenden - gleichzeitig auf Irdisches: "Ich weiß, dass noch viele kommen werden. Ich spüre es."

Im Inneren des Kreises beginnen einige zu tanzen. Touristen flanieren vorbei. Einige schauen sich verwundert um, als sie über das Megafon angesprochen werden. "Where are you from? Poland? Russia? Russia. Welcome Russia, thank you for joining us." Die Angesprochenen legen an Tempo zu und verlassen den Platz. Erwin und Gabi sind nicht zufällig hier: "Wir haben nichts Anderes vorgehabt. Da dachten wir eben, gemma Wall Street schauen."

Werner sitzt im Schneidersitz vor der Reiter-Statue. Ob er wisse, unter wessen Füßen er Platz genommen habe? "Keine Ahnung."

Anderer Schauplatz, andere Stimmung: Unter massivem Sicherheitsaufgebot versammeln sich die Aktivisten am Nachmittag am Westbahnhof: Musik, Volksfestcharakter, aber auch ein deutlich schärferer Ton der Demonstranten. Nach Polizeiangaben sind es etwa 2.000. Che Guevara blickt von dem Kleinlaster, der den Zug zur geplanten Menschenkette wieder Richtung Heldenplatz - und nicht wie ursprünglich vorgesehen zur Wiener Oper - anführt. Chaotisch, aber motiviert. "Global revolution" rufen die Menschen in Sing-Sang-Chören. Ein Polizist schaut regungslos in die Menge: "Wir hoffen, es bleibt ruhig." Überhörbar sind die Aktivisten jedenfalls nicht. Mit Fortschreiten des Tages wird die Veranstaltung zur Party, die Bierdosen am Heldenplatz immer präsenter. "It's not the crisis, it's the system", leuchtet es rot von einem der vielen Plakate. Grenzen gehörten abschafft, Studiengebühren sowieso, Pelze, Arbeitslosigkeit, aber auch die "Entartung" der Finanzwelt. Dem bronzernen Erzherzog wird eine Piratenfahne in die Hand gesteckt. "Wir sind alle eine Familie." Ho? (Sigrid Schamall, derStandard.at, 15.10.2011)