Zurzeit ist die Öffentlichkeit von einer Abfolge krimineller, zumindest jeder Moral spottender Skandale und aberwitziger Geschäfte schockiert. Es stellt sich die Frage, wie skrupellos und korrupt Manager und Politiker im Vergleich zur Normalbevölkerung sind. Was sagt die Forschung?

Fünf- bis Neunjährige mussten mit der linken Hand und mit dem Rücken zum Ziel mit einem Ball eine bestimmte Stelle treffen. Sobald der Psychologe den Raum verließ, trugen fast 50 Prozent den Ball zum Ziel. Wie sieht es mit Erwachsenen aus? Probanden wurde eine Belohnung von zehn US Dollar für das Ausfüllen von Fragebögen versprochen. Die Belohnung musste - gut begründet - auf zwei US-Dollar reduziert werden. Die Probanden konnten sich dann anschließend "unbeaufsichtigt" aus einer mit Münzen gefüllten Schüssel ihr Entgelt entnehmen. 48 Prozent stahlen (nahmen mehr als zugesagt).

Lawrence Kohlberg unterscheidet drei Niveaus moralischer Entwicklung: präkonventionelles (Vermeidung von Bestrafung - Streben nach Belohnung), konventionelles (seinen Ruf bewahren - Normeinhaltung als Pflicht) und postkonventionelles Niveau (Achtung universeller ethischer Prinzipien). Ein Drittel der Menschen sind präkonventionell und zwei Drittel konventionell orientiert.

Für die meisten steht die Bewahrung eines guten Selbstbildes im Vordergrund. Normeinhaltung als Pflicht oder das Befolgen universeller ethischer Prinzipien spielen praktisch keine Rolle. Eine fremde Dose Cola im Kühlschrank eines Studentenheims wird - so zeigen Studien - sehr rasch geleert. Fremde Dollarscheine im Kühlschrank bleiben liegen. Ein derartiger Diebstahl bedrohte das Selbstbild. Geld wurde im Fragebogenexperiment auch nur gestohlen, wenn es von der Firma kam. Kam es vom eigenen Chef, bediente sich niemand ungerechtfertigt. Je indirekter die Handlung und je weniger sie konkrete Personen betrifft, desto wahrscheinlicher sind Normbrüche. Daher werden fünf bis zehn Prozent der Schadenssummen von Versicherungen erschlichen.

Unsere Studien zeigen, dass es eine relativ starke Korrelation zwischen Narzissmus (Größenfantasien, Streben nach Bewunderung), Machiavellismus (geringe moralische Bindung, Zweck-heiligt-die-Mittel-Einstellung) sowie dem Führungs- (Macht- und Gestaltungsstreben) und dem Leistungsmotiv (besser als Konkurrenten sein, Erreichung hoher Ziele) gibt. Diejenigen, die an die Macht drängen und dafür auch gute Voraussetzungen mitbringen, weisen also ein Persönlichkeitsprofil auf, das eine selbstbewusste Interpretation moralischer Regeln bzw. freizügige Auslegung von Recht und Ordnung wahrscheinlicher machen als beim "Durchschnittsmenschen". Darf sich dieser als Unschuld vom Land wähnen?

Eher nein, denn die Neigung, zuzulangen bzw. sich schadlos zu halten, ist ein geradezu ubiquitäres Phänomen. Zu vermuten ist, dass die aktuellen Skandale nur die zufällig entdeckte Spitze eines Eisbergs sind. Ohne Zusammenbruch von Lehman Brothers und anderen würden Akteure noch krasser als Strasser und Gasser agieren. (Johannes Steyrer/DER STANDARD; Printausgabe, 15./16.10.2011)