"Alle meine Filme sind minimalistisch": Filmemacherin Chantal Akerman ist ab 28. 10. auch im Filmmuseum zu Gast und wird für Publikumsgespräche zur Verfügung stehen.

 Akerman, 61, stammt aus einer bürgerlich-jüdischen Familie aus Brüssel. Sie studierte nur ein paar Monate lang an der belgischen Filmhochschule, ehe sie 1968 nach Paris ging, wo sie, beeinflusst von Michael Snow und Jean-Luc Godard, ihre ersten Kurzfilme realisierte.

Bekannt wurde sie durch ihre feministisch orientierten Frauenporträts, allen voran durch den dreieinhalbstündigen Film Jeanne Dielman, 23 quai du Commerce, 1080 Bruxelles, in dem sie die Enge von bürgerlichen weiblichen Lebensentwürfen verhandelt. Ein anderer Fixpunkt ihres Werks blieben die USA, wo sie länger lebte und über die sie mehrere Filme machte.

Zuletzt zunehmend als bildende Künstlerin aktiv, hat Akerman dem Kino nie ganz den Rücken gekehrt: La folie Almayer, ihr neuester Film, feierte im September in Venedig Premiere. (kam)

Foto: Birgit Kohler

Mit Chantal Akerman sprach Cristina Nord.

Standard: Am Anfang Ihres neuen Films, La folie Almayer, frei nach Joseph Conrads Roman, gibt es eine lange Einstellung in einem Open-Air-Nachtclub irgendwo in Südostasien. Zwei Lieder werden jeweils zur Gänze gesungen, ein Song von Dean Martin, ein Stück von Mozart. Zwischendurch geschieht, wie nebenbei, ein Mord. Warum haben Sie diese beiden Stücke ausgewählt?

Akerman: Als ich in Schanghai war, sah ich diese beiden Hochhaustürme, und auf einem war eine riesige Version der Mona Lisa abgebildet. Asien eignet sich europäische und amerikanische Kultur an, aber auf sehr merkwürdige Weise, weil alles nivelliert wird, was wiederum wie ein Bumerang zu uns zurückkommt und zu unserem Problem wird. Wenn zum Beispiel Sarkozy sagt: "Wir müssen La princesse de Clèves nicht mehr lesen", dann ist das ein Beispiel dafür. Kultur wird trivialisiert, ich betrachte das mit Sorge. Und die Chinesen ebnen alles ein. Also fiel meine Wahl auf einen Song von Dean Martin aus den 50er-Jahren, weil mir das sehr asiatisch erschien.

Standard: Das allererste Bild zeigt eine Wasseroberfläche in der Nacht, auch dazu erklingt Musik - Richard Wagners Tristan und Isolde.

Akerman: Ja, während die Credits laufen, das Prélude zu Tristan und Isolde. Ich weiß, in Lars von Triers Melancholia wird es auch verwendet. Als ich den Film sah, habe ich zu mir gesagt: "Scheiße, der Kerl benutzt dieselbe Musik!". Aber ich benutze sie anders.

Standard: Wie denn?

Akerman: Das hängt jeweils von den Bildern ab - es kann weich und sanft sein oder dramatisch, es kann vielen unterschiedlichen Gefühlen Ausdruck verschaffen. In La captive habe ich ausgiebig Rachmaninows Die Toteninsel verwendet, und jedes Mal, wenn man einen Ausschnitt hörte, hatte das eine andere Wirkung. Vielleicht ist Die Toteninsel weniger bekannt als Tristan, das weiß ich nicht so genau, denn ich bin kein besonders bildungsbürgerlicher Mensch, ich bin mit 15 von der Schule abgegangen. Klassische Musik war für mich etwas, was anderen gehörte - bis ich mit jemandem zusammenlebte, der Cello spielte, und nach und nach entdeckte, dass ich sehr wohl Zugang zu dieser Welt haben konnte.

Standard: Weil man nicht zu einer bestimmten Schicht gehören muss, um klassische Musik zu genießen?

Akerman: Genau. Wie beim Kino auch: Angeblich sind meine Filme ja nichts für ein Massenpublikum, aber wer entscheidet das schon?

Standard: Die Frage nach dem Dazugehören ist ja auch im Film zentral. Die beiden Hauptfiguren, der Entrepreneur Almayer und seine aus einer Verbindung mit einer Einheimischen hervorgegangene Tochter Nina wirken fehl am Platz.

Akerman: Ja. Eigentlich gehört nur die Mutter an den Platz, an dem sie ist, und die wird verrückt, nachdem die Tochter ins Internat geschickt wird. Und dann vielleicht noch der Chinese, der ja eine Art Erzähler ist. Ich habe beim Schreiben viel verändert. Am Anfang war ich sehr dicht an Joseph Conrads Buch dran. Aber je mehr Zeit ich damit verbrachte, in Kambodscha nach Drehorten zu suchen, umso mehr wirkte sich das Land auf mein Schreiben aus. Allmählich wurde mir klar, dass ich das Mädchen in den Mittelpunkt rücken wollte. Warum sollte ich einzig von diesem Kerl sprechen? Beide Figuren haben Züge von mir, der Vater und die Tochter, der Mann, der alles verliert und verrückt wird, und die starke junge Frau.

Standard: Das müssen Sie mir näher erklären.

Akerman: Nun, ich kann Ihnen nicht alles erzählen. Ich bin manisch-depressiv. Meine Mutter ist aus den Lagern zurückgekommen, sie hat Auschwitz überlebt, viele Mitglieder meiner Familie sind gestorben. Sie hat nie ein Wort gesagt, aber als Kind habe ich das alles gespürt. Ich war ein altes Kind und bin's noch immer, ich kam nicht von der Stelle, höchstens in meinem Kopf.

Standard: Und in Ihrer Arbeit?

Akerman: Vielleicht mit diesem Film. Alle meine Filme sind minimalistisch. Aber bei diesem habe ich gepusht und gepusht, und es gibt eine Öffnung, etwas Machtvolles. In Kambodscha habe ich mich frei gefühlt. Ich bin im Schlafanzug ans Set gekommen, hatte nicht vorbereitet, was wir drehen würden, ich wollte den Schauspielern ihre Freiheit lassen. Zu Stanislas Merhar, dem Darsteller von Almayer, sagte ich: "Du hast allen Freiraum, den du brauchst. Wir drehen die und die Szene, mach's einfach." Zum Kameramann sagte ich: "Bitte ihn bloß nicht darum, an einer Markierung haltzumachen."

Standard: Braucht man nicht sehr viel Zeit, um so zu arbeiten?

Akerman: Nein, wir haben schnell gearbeitet, wir haben weniger als sieben Wochen gebraucht, was man dem Film nicht ansieht.

Standard: Zumal die Einstellungen ziemlich kompliziert wirken.

Akerman: Alle haben sehr engagiert mitgemacht. Am Anfang haben wir immer nur einen Take gedreht. Nach einer Woche hieß es aus dem Labor: Da sind Kratzer. Also mussten wir mehr Takes drehen. Ich dachte: "Mist, ein Take ist doch so aufregend!"

Standard: Der Film entwickelt eine große Sensibilität für die Landschaft, für den Fluss und den Wald.

Akerman: Ich habe Kambodscha geliebt, die Hitze, die Natur. Ich habe in den Fluss gepinkelt, ich bin geschwommen, ich habe mich so frei gefühlt.

Standard: Als Filmemacherin sind Sie ja viel unterwegs, Sie haben in den USA gedreht, in Tel Aviv und jetzt in Kambodscha. Zugleich geht es immer wieder um Figuren, die in engen Räumen eingeschlossen zu sein scheinen. Woran liegt das?

Akerman: Man kann sich selbst nicht loswerden. Das hat auch mit der Geschichte meiner Mutter zu tun. Ich will nicht sagen, dass ich es im Blut hätte, das ist ein dummer Ausdruck. Aber irgendwo in meinen Zellen steckt dieses Gefühl, dass ich im Gefängnis sitze. Zugleich will ich ja wie ein Schwamm sein und alles aufsaugen, was ich sehe. Ich möchte vor dem Drehen keine Idee im Kopf haben, denn dann würde ich nur diese Idee finden und sonst nichts anderes wahrnehmen. Aber mein Gefängnis ist überall. Und sicher, wir haben heute die Psychoanalyse ... Ich bin so viele Jahre hingegangen, aber geholfen hat es nichts. Vielleicht ein bisschen.
(DER STANDARD, Printausgabe, 6.10.2011)