Setting für einen Märchen, das sich über die Widrigkeiten der Wirklichkeit hinwegsetzt: Ein afrikanischer Junge (Blondin Miguel) strandet in Aki Kaurismäki großartigem Sozialmärchen in der Hafenstadt Le Havre und findet Obhut bei einem Schuhputzer.

Foto: Stadtkino

Bild nicht mehr verfügbar.

 Aki Kaurismäki, Regisseur und Raucher.  Kaurismäki, 54, ist Finne. Zunächst arbeitete er als Filmkritiker, seit Mitte der 1980er-Jahre dreht er Filme, oft minimalistische Melodramen, die durch ihre Melancholie und ihren lakonischen Stil wie Humor betören. Er wurde vielfach ausgezeichnet.

Foto: APA

Dominik Kamalzadeh traf den Regisseur zum Gespräch.

Standard: Mit "Le Havre" kehren Sie zu Marcel Marx, dem Protagonisten aus "La vie de Bohème" von 1992 zurück. Was hat diese Fortsetzung motiviert?

Kaurismäki: "La vie de Bohème" hat ja kaum jemand gesehen, daher ging es vor allem darum, mich selbst zu unterhalten. Ich wollte die Hauptfigur wieder zum Leben erwecken, weil er mir, wie der ganze Film, sehr wichtig war.

Standard: Er ist ein warmherziger Mensch, der Gutes tut.

Kaurismäki: Das ist ganz im Sinn von Henri Murgers Libretto. Der letzte Satz bei ihm lautet: "Man ist nur einmal jung." Und Marcel sieht man - wie übrigens auch mir - an, dass seine Jugend vorbei ist. Es war schön, jung zu sein, aber es ist leichter, alt zu sein.

Standard: Warum?

Kaurismäki: Weil man nicht mehr ernsthaft sein muss.

Standard: Aber Marcel Marx ist doch ernsthaft?

Kaurismäki: Ja, er hat sich eine Moral bewahrt. Das ist aber auch schon das Einzige, was man aus der Jugend bewahren kann. Wenn man als junger Mensch keine Moral hat, wird man sie nie haben.

Standard: Eine weitere Hauptfigur des Films ist die Stadt, ihr Hafen. Haben Sie sich für Le Havre entschieden, weil es so finnisch wirkt?

Kaurismäki: Oh nein, ich wollte so weit wie möglich von Finnland entfernt sein! Aber natürlich ist mein Denken sehr nordisch, und Nordfrankreich hat auch diese Qualität. Ich werde mich nicht mehr zum mediterranen Menschen wandeln, obwohl ich seit 20 Jahren ein Haus in Portugal habe.

Standard: "La vie de Bohème" war auch eine Liebeserklärung an den poetischen Realismus der 1930er-Jahre. Bei "Le Havre" denkt man gleich an Marcel Carnés "Le quai des brumes".

Kaurismäki: Ja, mit Jean Gabin und Michèle Morgan - ich habe versucht, ein Eck des Tischtuchs zu erwischen. Marcel Carné war allerdings ein Mann des Melodrams. Meine Geschichte eignete sich dafür nicht. Also habe ich ein Märchen gedreht.

Standard: Mit Jean-Pierre Darroussin haben Sie zum ersten Mal gearbeitet. Wie haben Sie ihn zur Kaurismäki-Figur gemacht?

Kaurismäki: Profis lernen das schnell. Ich habe selbst ein wenig gespielt, als ich noch jünger war. Ich konnte es nicht, aber ich erkenne gutes Schauspiel, wenn ich es sehe. Profis fragen nur nach der Intensität, denn sie haben ihren Text, dadurch ist schon alles sehr klar. Profis sind schneller, billiger und besser.

Standard: Müssen Sie sie nicht stets auffordern, den Ausdruck zu minimieren?

Kaurismäki: Das gibt das Drehbuch schon vor. Ich sage nur, ein bisschen mehr, ein bisschen weniger. Meistens nicht einmal das.

Standard: Warum gefällt Ihnen Stille so gut?

Kaurismäki: Menschen reden doch ohnehin zu viel. Aber diesmal gibt es ja genug Dialog.

Standard: Der immer sehr literarisch ist.

Kaurismäki: Ich habe ein einziges Mal versucht, so zu schreiben, wie man normalerweise spricht. Es hat überhaupt nicht funktioniert. Ich nehme lieber die Strafe auf mich, als zu literarisch zu gelten denn als zu trivial.

Standard: Zentrales Thema des Films ist Immigration. Weshalb?

Kaurismäki: Ich bin ein politisches Tier, das nicht alles akzeptiert, was es sieht. Wenn man einen Film über ein Thema macht, dann tanzt man auf einem Seil: Der Film sollte nicht nur unterhaltsam sein, sondern auch Stellung beziehen. Sogar eine schlechte Botschaft ist besser als gar keine.

Standard: Sie haben sogar eine sehr optimistische Botschaft.

Kaurismäki: Je skeptischer ich selbst werde, desto optimistischer sind meine Filme. Das ist seltsam, wo ich doch ein zynischer Mensch bin. Ich kann mir keinerlei Zukunft für die Menschheit ausmalen. Doch da ich dieses Faktum akzeptiert habe, dachte ich, man könnte zumindest optimistischere Filme machen.

Standard: Ich habe gelesen, dass Sie in den 1970ern selbst daran gedacht, Politiker zu werden.

Kaurismäki: Nein, das stimmt nicht, ich habe damals bloß zu meinen Freunden gesagt: "Wir werden keine Politiker. Doch wenn wir es nicht tun, dann werden es die Idioten tun." Und das ist dann auch passiert.

Standard: In all Ihren Filmen arbeiten Sie gemeinsam mit dem Kameramann Timo Salminen. Eine intuitive Form der Kollaboration?

Kaurismäki: Wir reden nicht allzu viel. Manchmal abends. Meistens pfeifen wir uns nur zu. (pfeift) Wir haben einmal einen Stummfilm gedreht, da hat die ganze Crew nur gepfiffen. Das war ein Spaß.

Standard: Die Kamera, die Sie benutzen, soll sehr alt sein.

Kaurismäki: Ich habe zwei Kameras, die eine ist älter als die andere. Meistens verwenden wir die Ältere. Nichts an ihr ist digital.

Standard: Werden Sie nicht eines Tages wechseln müssen?

Kaurismäki: Nein, ich bin schon zu alt. Das digitale Bild kann schärfer, farbintensiver, ja, was auch immer sein: Es ist tot. Die Oberfläche lebt nicht. Kino ist ein Spiel aus Schatten und Licht. Das Digitale ist Elektrizität. Michèle Morgan kann man sich nicht auf einem digitalen Bild vorstellen.

Standard: Sie haben einmal gesagt, Sie seien kein Filmemacher, sondern Sammler. Was fasziniert Sie an Dingen der Vergangenheit?

Kaurismäki: Ich bin selbst ein Ding aus der Vergangenheit. In diesem Leben werde ich mich nicht an die Gegenwart gewöhnen.

Standard: Glauben Sie denn an ein nächstes?

Kaurismäki: Nein, tue ich nicht. Wenn du tot bist, bist du tot. Das macht mich froh. Wie schrieb schon Raymond Chandler in "The Big Sleep": Es ist egal, wo man liegt, wenn man tot ist.
(DER STANDARD, Printausgabe, 14.10.2011)