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"Wir brauchen mehr, nicht weniger Regulierung", sagt Stéphane Hessel angesichts der Krise. "Die Besteuerung des Kapitals ist viel zu niedrig, während die Bürger zu stark besteuert werden."

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Mehr Regulierung und mehr Europa als Antwort auf die Krise, weniger Blockade der Großmächte: Starautor Stéphane Hessel, der in Wien und Graz auftritt, schilderte Stefan Brändle sein Weltbild.

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STANDARD: Sie haben mit einem dünnen Büchlein eine weltweite Sozialbewegung losgetreten - und das als 94-jähriger ehemaliger Berufsdiplomat. Wie fühlt man sich da?

Hessel: Es ist eine Freude, aber auch eine Verantwortung. Dabei ist es gar nicht mein Verdienst. Die Menschen in allen Ländern sind seit langem bewegt, und ich sagte nur: Empört euch! Das genügt nicht, man muss sich auch engagieren, um die Gesellschaft vorwärts zu bringen, sei es als Regierungsperson oder als einfacher Bürger.

STANDARD: In Ihrem Werk befürworten Sie das Engagement in politischen Parteien, die noch fähig seien, die Komplexität der Gesellschaft zu erfassen. Die Kundgebungen der "indignados" , der Empörten, finden aber außerhalb der Parteien statt. Stört Sie das?

Hessel: Es macht vielleicht Spaß, auf die Straße zu gehen; aber um nützlich zu sein, um etwas zu erreichen, muss man in unseren Demokratien in Parteien mitarbeiten. Nehmen Sie das Beispiel Frankreich: Derzeit organisieren die Sozialisten inhaltlich hochstehende Primärwahlen mit überraschenden Kandidaten.

STANDARD: Sie meinen Arnaud Montebourg, der sich für die von Ihnen thematisierte "Entglobalisierung" ausspricht. Die lokale Produktion österreichischer Bergbauern oder afrikanischer Viehzüchter gegen außen zu schützen klingt gut. Das führt aber zu nationalem Protektionismus.

Hessel: Harter Protektionismus ist zu vermeiden. Aber gewisse Maßnahmen sind unabdingbar, solange der Austausch zwischen Staaten im Ungleichgewicht ist. Ich denke zum Beispiel an eine Importsteuer auf chinesische Produkte, die unter Missachtung des Arbeitsrechts hergestellt wurden. Keynes empfahl auch generell eine Regulierung der Marktwirtschaft, um sie im Gleichgewicht zu halten, indem gleiche Produktionsbedingungen geschaffen werden.

STANDARD: Sie wollen aber sogar eine "décompétitivité" , also Abkehr vom Wettbewerb.

Hessel: Wettbewerb führt, wenn sich die Dinge zuspitzen, zu einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen in einzelnen Ländern, später auch in den übrigen. Deshalb brauchen wir weltweite Sozialstandards und internationale Gewerkschaften.

STANDARD: Das ist aber nicht im Sinn der Oligarchien, die Ihnen zufolge der Hauptfeind der Demokratie sind.

Hessel: Diese Oligarchien müssen die Macht an die Bürger zurückgeben. So wollte es anfangs auch die amerikanische Demokratie: of the people, for the people, by the people - vom Volk, für das Volk, durch das Volk. Das muss heute wieder Geltung erhalten.

STANDARD: Sie haben die europäische Idee seit Kriegsende mitgetragen. Ist sie heute nicht sinnentleert?

Hessel: Im Gegenteil, wir brauchen eine weitergehende Europa-Union, die Politik und Wirtschaft zusammenführt. Gewiss ist es nach der EU-Erweiterung schwieriger, eine Einheit zu finden. Bisher litt die EU aber auch unter dem neoliberalen Diskurs der Chicagoer Schule. Das hat sie noch nicht überwunden, auch wenn Milton Friedmans Thesen seit 2008 - und neu bei der Bank Dexia - widerlegt sind.

STANDARD: Ist es besser, wenn die EU-Staaten die Finanzlöcher mit Milliardenpaketen stopfen?

Hessel: Nötig wäre ein gesamthaft neuer Ansatz wie Roosevelts New Deal ab 1933. Der Staat muss eingreifen, auch in die Banken. Wir brauchen mehr, nicht weniger Regulierung. Die Besteuerung des Kapitals ist viel zu niedrig, während die Bürger zu stark besteuert werden.

STANDARD: Wie schätzen Sie Barack Obamas Wirtschaftskurs ein?

Hessel: Ich bin darüber nicht glücklich. In seinem Buch Hoffnung wagen hat er eine Wirtschaftspolitik ähnlich wie Roosevelt oder Kennedy skizziert, fern von Thatcher und Reagan. Seither ließ er sich aber zurückdrängen. Falls er wiedergewählt wird und nicht mehr von Wahlen abhängig ist, findet er hoffentlich den Mut, zu tun, was er sich vorgenommen hatte.

STANDARD: Auch in Nahost schiebt Obama eine Regulierung auf.

Hessel: Da ist er genau in der gleichen Lage. Es gibt in den USA sehr starke Lobbys, etwa des Kapitals oder der amerikanischen Juden, und Obama hat ihnen zweifellos zu wenig Widerstand entgegengesetzt.

STANDARD: In diesem Zusammenhang kritisieren Sie immer wieder das Vetorecht der permanenten Mitglieder des UN-Sicherheitsrats.

Hessel: Ich setze mich seit 66 Jahren für die Uno ein; sie ist die einzige und legitime Weltinstitution. Aber sie wird zunehmend behindert durch das Vetorecht von Großmächten, die nur ihre eigenen Interessen verfolgen. Das gilt für Russland und China bei der Syrien-Resolution, das gilt für die USA gegenüber den Palästinensern. Das Vetorecht ist ein pure Blockade. Mein Vorschlag wäre es, den Sicherheitsrat auf 25 Mitglieder zu vergrößern und Ländern wie Brasilien, Japan oder Indien einen permanenten Sitz einzuräumen; zugleich könnte man das Vetorecht durch eine Zweidrittelmehrheit ersetzen.

STANDARD: Islam, Israel: Steht die Religion letztlich nicht dem Völkerrecht entgegen?

Hessel: Das kann ein Gegensatz sein, muss aber nicht. Wir müssen die Religionen ehren und würdigen. Heute stehen sie nicht mehr im Kampf miteinander. Auch Islamisten handeln nicht religiös, sondern antiwestlich. In Israel ist es ähnlich: Nicht religiöse Juden, sondern nationalistische Zionisten benützen die Religion, um zu behaupten, Gott habe ihnen das Land gegeben. Über den Sicherheitsrat verfügt Gott aber nicht.

STANDARD: Israel wirft Ihnen und Gesinnungsleuten Antisemitismus vor.

Hessel: Die Gefahr, missverstanden zu werden, gibt es immer. Mich zu einem Antisemiten zu erklären ist schlicht verrückt. (DER STANDARD, Printausgabe, 14.10.2011)