Junger Mann blickt unentschlossen in die Zukunft: Melih Selçuk als Yusuf.

Foto: Stadtkino

Wien - Der türkische Filmemacher Semih Kaplanoglu rollt seit einigen Jahren ein fiktives Leben von hinten auf: Süt - Milch ist der Mittelteil dieser Trilogie, in deren Mittelpunkt Yusuf steht. Im ersten Film Yumurta / Egg ist dieser ein Erwachsener, im jüngsten und letzten Film Bal - Honig (im Vorjahr bei der Berlinale prämiert) ein kleiner Junge. Süt begleitet ihn beim allmählichen Übergang ins Erwachsenendasein.

Der Militärdienst steht an, Yusuf (Melih Selçuk) unternimmt erste, ungelenke Annäherungsversuche an junge Frauen. Sein Aktionsradius reicht so weit, wie sein klappriges Moped fährt. Seine finanziellen Mittel sind bescheiden. Nachts sitzt er an seiner Schreibmaschine und verfasst Gedichte, tagsüber unterstützt er seine alleinstehende Mutter beim Betrieb einer kleinen Landwirtschaft, am Wochenmarkt und als fahrender Milchverkäufer.

Der Film fasst diese Lebensgeschichte in lapidare Beobachtungen: In weiten Panoramen taucht Yusuf immer wieder als leicht verlorene Gestalt auf, während hinter oder neben ihm Gleichaltrige gemeinsamen Aktivitäten nachgehen. Yusufs Außenseitertum scheint dabei selbst gewählt (erst spät wird man auch auf ein physisches Handicap gestoßen).

Nur mit einem fernen Freund, der in einem Kohlebergwerk schuftet, teilt er seine Leidenschaft fürs Schreiben - und seinen ersten kleinen Erfolg, den Abdruck eines seiner Werke in einer Literaturzeitschrift. Das Zusammenleben von Mutter und Sohn verläuft in weitgehend gleichförmigen Bahnen, bis Erstere den Entschluss fasst, sich noch einmal zu verheiraten - Yusuf zieht daraus ungeahnte Konsequenzen.

Diese realistischen, nüchternen Schilderungen sind jedoch - wie schon das bemerkenswerte Familiendrama Melegin Düsüsü (2004) - durchwirkt von surrealen Vorkommnissen und Figuren. Gleich an den Anfang des Films setzt Kaplanoglu ein Bild, das als Allegorie ebenso lesbar ist wie als Vorführung eines möglicherweise existierenden archaischen Austreibungsrituals: Eine Frau wird kopfüber an einem Baum aufgehängt, ein greiser Mann zieht langsam eine Schlange aus ihrem Schlund. Reptilien sorgen später noch öfter für Beunruhigung.

Einmal holt Yusuf mit bloßen Händen einen riesigen Fisch an Land - auch dieses Bild bleibt ambivalent, nicht zuletzt deshalb, weil der Film ästhetisch nie die Register wechselt, immer gleich ungerührt und unverstellt auf das Geschehen blickt. Ein seltsamer und einer der interessantesten Filme im bisherigen Kinoherbst.   (Isabella Reicher / DER STANDARD, Printausgabe, 13.10.2011)