Was heißt es, wenn die Krise eine "systemische Dimension" erreicht? Der scheidende Präsident der Europäischen Zentralbank, Jean-Claude Trichet, sagte vor dem Europäischen Parlament, dieser Fall drohe nun in der Eurozone einzutreten. Durch die Krise werde das gesamte Finanzsystem gefährdet.

Oder anders formuliert: Die systemische Krise ist, wenn alles hin ist; wenn die Banken zusammenbrechen und die Staaten pleitegehen; wenn sich kilometerlange Schlangen vor den Bankschaltern bilden und alle auf einmal ihr Geld abheben wollen; womit auch die Kreditvergabe abgewürgt ist und die Finanzierung der normalen Wirtschaftstätigkeit eingestellt werden muss. Die Staaten, die die Spareinlagen bis zu einer gewissen Höhe garantiert haben, könnten angesichts des riesigen Kapitalbedarfs Schwierigkeiten haben, dieses Versprechen einzulösen. Da ausländische Kreditgeber den Staaten plötzlich nichts mehr geben, kann der Staatsbankrott eintreten. In diesem, äußersten Fall kann der Staat zwei Dinge tun: erstens Geld drucken, was auf Zeit galoppierende Inflation erzeugt; zweitens auf die Ersparnisse seiner Bürger zugreifen, sie also enteignen.

Das alles haben wir in den verschiedenen Versionen schon einmal gehabt. Am furchtbarsten 1931. Zunächst ging die österreichische Creditanstalt scheinbar völlig überraschend pleite. Das war der Zündfunke für eine Reihe von großen Bankenzusammenbrüchen in Deutschland. Da die damalige konservative Regierung voll auf die Sparbremse stieg, verschärfte sich die Massenarbeitslosigkeit derart, dass die Nationalsozialisten 1932 stärkste Partei wurden. So wird es nicht wieder kommen. Aber man muss es ernst nehmen, wenn der europäische Chefnotenbanker, der sich jedes Wort genau überlegen muss, von der Möglichkeit einer systemischen Krise spricht.

Die Bürger werden auf die eine oder andere Art die Krisenbekämpfung mitzahlen müssen. Zu glauben, dass das im Ernstfall mit "Reichensteuern" gelingen würde, ist naiv. Wenn es wirklich haarig wird, muss der Staat auf die (Spar-) Vermögen seiner Bürger zugreifen. Ein vollkommen verantwortungsloser Nationalpopulist (um einen milden Ausdruck zu gebrauchen) wie der ungarische Premier Viktor Orbán hat ja nicht nur die ausländischen Banken teilenteignet (was der letzte Auslöser für die Abwertungen der Erste Bank war), er hat das auch schon bei der eigenen Bevölkerung durchgezogen: Die privaten Pensionsversicherungen wurden verstaatlicht, ihre Kunden werden ihr Geld nur in sehr bescheidenem Umfang wiedersehen.

In Europa haben wir jetzt den Ernstfall, und das Krisenmanagement der EU muss jetzt gelingen. Aber eines darf man nicht vergessen: Die "systemische Dimension" der Krise hatte in allen Fällen, auch in den Dreißigerjahren, Ursachen in einem Fehlverhalten aller - der Banken, der Regierungen wie auch der Bürger selbst. Die Wurzeln lagen und liegen oft Jahre und Jahrzehnte zurück. Eine systemische Krise entsteht immer auch aus systemischem Fehlverhalten. (DER STANDARD, Printausgabe, 12.10.2011)