Kammerchef Christoph Leitl klagt sein Leid über die Regierung: "Wenn das Jahr 2012 nutzlos verstreicht, wird sich der Frust entladen. Es sind beide Parteien, die durch Nichtstun verlieren."

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Standard: Sie haben immer Milliardeneinsparungen im Pensionssystem gefordert. Verfehlt das Sozialpartner-Konzept Ihre eigenen Erwartungen nicht meilenweit?

Leitl: Wir befinden uns auf der ersten Station einer neuen Reise. Das ist allemal besser, als ewig am Ausgangspunkt zu diskutieren, ob das Ziel überhaupt zu erreichen ist. Die Einsparungen betragen immerhin 1,5 Milliarden Euro, auf Basis einer sehr vorsichtigen Schätzung. Das ist kein Klacks, den die Sozialpartner da zur Welt gebracht haben.

Standard: Noch bestehen die Einsparungen nur auf dem Papier.

Leitl: Ja, aber es ist ein genauer Pfad vorgezeichnet. Unsere Vorschläge wirken kurzfristig, in einem Jahr müssen bereits Ergebnisse vorliegen. Will die Politik eine weiterreichende Reform, muss sie die Gesetze ändern. Ich glaube auch, dass das nötig sein wird.

Standard: Sie mahnen gerne mutige Reformen von anderen ein. Selbst sind Sie jetzt aber nicht über den eigenen Schatten gesprungen.

Leitl: Der Auftrag der Regierung war nun einmal eine Reform auf bestehender Gesetzeslage - es hätte deshalb keinen Sinn, ein früheres Aus der Hacklerfrühpension zu fordern. Unser Weg lautet: Mit Rehabilitation helfen wir jenen, die gesundheitliche Probleme haben, im Beruf zu bleiben - damit wir nicht Weltmeister bei Invaliditätspensionen bleiben. Es soll eine Teilpension für jene geben, die sagen: "Ein bissl freut's mich schon noch, aber nicht mehr 40 Stunden die Woche, sondern nur mehr 25 Stunden." Und wir schlagen ein Anreizsystem vor, damit sich länger arbeiten auch lohnt - denn man kann den Leuten nichts zumuten, was ihrer Intelligenz widerspricht. Förderungen sind mir dabei lieber als Drohungen.

Standard: Möglicherweise weil es um die eigene Klientel geht. Muss es nicht auch Sanktionen geben, etwa für Unternehmen, die ältere Arbeitskräfte abschieben?

Leitl: Wir wollen es zunächst mit Anreizen probieren, denn Bedrohungen weicht man gerne aus. Gibt es eine Pönale, werden sich Betriebe überlegen, ob sie überhaupt ältere Arbeitnehmer aufnehmen. Wenn internationale Beispiele positive Erfahrungen zeigen, bin ich in einem weiteren Schritt aber auch offen dafür, über Sanktionen zu sprechen.

Standard: Apropos Tabus: So mancher ÖVP-Politiker liebäugelt mit höheren Steuern für Topverdiener. Sie auch?

Leitl: Wir haben in diesem Land bereits eine sehr hohe Steuerbelastung für die Leistungsträger. Bevor man wieder an die Bürger herantritt und höhere Steuern fordert, möchte ich sehen, dass jenes Geld, das in der Bürokratie versickert, herausgeholt wird. Die Regierung muss einen Pfad skizzieren und diesen auch wirklich beschreiten. Sollte dann noch ein Alzerl in der Staatskasse fehlen, kann man mit der Wirtschaft über alles reden, auch über einen solidarischen Beitrag.

Standard: Auch über Vermögenssteuern?

Leitl: Derzeit beteilige ich mich nicht an dieser Diskussion. Sie ist deplatziert und sorgt für viel Frust bei den Betrieben.

Standard: Wieso? Reichen- oder Vermögenssteuern sollen ja nicht die Unternehmen treffen.

Leitl: Die Betriebe mussten die Jahre 2008 und 2009 mit massiven Einbrüchen überstehen. Sie mussten innovativ sein, sich verändern und haben die Beschäftigung gehalten ...

Standard: ... auch dank Konjunkturhilfen des Staates ...

Leitl: Natürlich, ja. Doch jetzt tut der Staat so, als könnte er auf Dauer so dahinleben. Das ist ein Irrtum, siehe Griechenland. Weder ist die Regierung die notwendigen Erneuerungen - Bildung, Gesundheit, Verwaltung - angegangen, noch hat sie bei der Regulierung der Finanzmärkte etwas zusammengebracht. Auch nicht auf europäischer Ebene - doch so schwach können wir als Nettozahler ja nicht sein. Der Staat schöpft seine Potenziale also nicht aus und greift stattdessen in die Taschen der Leute.

Standard: Sie selbst haben doch immer behauptet, große Probleme bräuchten eine große Koalition.

Leitl: Das ist ja mein großer Frust. Warum funktioniert es nicht? Da kann ich keine vernünftige Antwort geben. Wenn das Jahr 2012 wieder nutzlos verstreicht, dann wird sich auch der Frust der Wähler entladen. Es sind ja beide Regierungsparteien, die durch Nichtstun verlieren.

Standard: Die ÖVP besonders, wie es scheint. Was läuft schief?

Leitl: Die ÖVP muss ein paar Grundprinzipien hochhalten. Am besten ist es ihr - von Raab bis Schüssel - immer dann gegangen, wenn sie sich nicht gescheut hat, heiße Eisen anzufassen. Wir dürfen nie dem Populismus erliegen, denn das können andere besser. In der Kritik an Ausländern kann die ÖVP - siehe die letzte Wien-Wahl - nie besser sein als die FPÖ, bei Steuerforderungen nie besser als die SPÖ. Sie soll mehr von Leistung als von Verteilung reden, von Erneuerung statt von Besteuerung. Wenn dann ein um ein paar Prozentpunkte höherer Spitzensteuersatz gefordert wird, bringt das in der Sache nichts.

Standard: ÖVP-Chef Michael Spindelegger spricht eh dauernd von Leistungsgerechtigkeit. Nur weiß keiner, was er genau meint.

Leitl: Wir müssen von der Überschrift zum Inhalt kommen. Das ist so wie bei einer Schulaufgabe: Zuerst kriegst du ein Thema, und das musst du dann aufarbeiten. Ich traue Michael Spindelegger zu, dass er diese Aufgabe als solider und seriöser Arbeiter erfüllt.

Standard: Momentan sind es Politpensionisten, die als Reformer auftreten. Ist das nicht paradox?

Leitl: Diese erfahrenen Persönlichkeiten sehen eben die Probleme und leiden darunter, dass sie nicht gelöst werden. Ihre Besorgnis soll man nicht leichtfertig vom Tisch wischen. Ein Erhard Busek, ein Franz Fischler oder ein Gerd Bacher haben es nicht verdient, als "Muppets" verlacht zu werden. In einer Familie steht es den Älteren zu, ein mahnendes Gespräch mit den Kindern zu führen. Da darf man nicht einfach sagen: "Alter Vater, schleich dich!"(Gerald John, DER STANDARD; Printausgabe, 12.10.2011)