STANDARD: Welches Urteil erwarten Sie?
Carr: Für alle, die den Prozess verfolgt haben, ist sichtbar, dass er internationalen Rechtsstandards in keinster Weise genügt. Neben Verfahrensfehlern gibt es reihenweise fehlerhafte Beweise, und selbst die Zeugenaussagen haben keine Erkenntnisse für die Schuld meiner Mutter ergeben. Demnach müsste ein Freispruch erfolgen. Allerdings ticken die Uhren in der Ukraine anders. Ich befürchte, das Urteil wurde bereits lange vor Prozessende geschrieben.
STANDARD: Nachdem die internationale Kritik an der ukrainischen Regierung immer stärker wurde, debattiert derzeit das Parlament über Änderungen im Strafgesetzbuch. Einige Artikel aus der Sowjetzeit sollen wegfallen. Timoschenko ist nach Artikel 365, Absatz 3 angeklagt (Amtsmissbrauch - Timoschenko soll als Regierungschefin dem Staat beim Gasvertrag mit Russland geschadet haben, Red.). Meinen Sie, diese Gesetzesänderungen könnten Ihrer Mutter helfen?
Carr: Die Entscheidung liegt allein bei Präsident Wiktor Janukowitsch. Es wird sich zeigen, ob er die Signale von EU und USA verstanden hat.
Nemyria: Die Vertreter der EU haben der Ukraine unmissverständlich klargemacht, dass es bei einer Verurteilung Timoschenkos keine Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens geben werde. Janukowitsch braucht aber politische Erfolge. Das Land kann es sich schlicht nicht leisten, diesen Zug abfahren zu lassen.
STANDARD: Frau Timoschenko sitzt seit mehr als zwei Monaten in Untersuchungshaft. Wie geht es ihr?
Carr: Meine Mutter hat sich ihre Stärke auch in der Haft bewahrt, aber ich mache mir Sorgen um ihre Gesundheit. Sie hatte bereits eine Bronchitis, hohes Fieber und war stark erkältet. Wenn der Winter kommt und sich ihr Zustand weiter verschlechtert, fürchte ich um ihr Leben. Sie teilt sich eine 16 Quadratmeter große Zelle mit zwei anderen Frauen. Es gibt keine Heizung, kein Warmwasser.
STANDARD: Julia Timoschenko bleibt Oppositionschefin?
Nemyria: Timoschenko ist und bleibt Oppositionsführerin. Sie ist das Symbol für eine moderne, demokratische und europäische Ukraine. Unsere Partner in Europa sehen das genauso und unterstützen den Aufbau der Vaterlandspartei (Batkiwtschina). Sie soll zu einer proeuropäischen Mitte-rechts-Partei umgebaut werden.
STANDARD: Braucht die Ukraine mehr Unterstützung der EU? Die Östliche Partnerschaft hat der Ukraine bisher wenig gebracht.
Nemyria: Die Mehrheit der Ukrainer wünscht sich eine engere Anbindung an die EU. Die Östliche Partnerschaft ist auf dem Papier ein nobler Plan, aber die Mittelmeerländer, Osteuropa und der Kaukasus sind zu verschieden. Ich wünsche mir einen stärkeren Fokus auf die Einzelstaaten. Ich bin optimistisch, dass das Assoziierungsabkommen Ende des Jahres unterzeichnet wird. Dann müssen allerdings die weiteren Schritte aufmerksam von der EU begleitet und von der Ukraine auch umgesetzt werden. Moderne Rechtsstandards, Visa-Erleichterungen und ein attraktives Investitionsklima würden beiden Seiten, der Ukraine und der EU, sehr helfen. (Nina Jeglinski, DER STANDARD, Printausgabe, 11.10.2011)