Peer Steinbrück: "Wenn ich mir die Diskussion der letzten Tage anschaue, dann wächst endlich das Realitätsbewusstsein dafür, dass Griechenland eine Umschuldung braucht."

Foto: Matthias Cremer

Der frühere deutsche Finanzminister Peer Steinbrück beklagt das Krisenmanagement in der Bankenkrise,  die er als Scheideweg für die EU sieht. Von Alexandra Föderl-Schmid und Christoph Prantner.

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STANDARD: Sie treten explizit für einen Schuldenschnitt für Griechenland und auch für Eurobonds ein - wie lange wird es brauchen, bis sich diese Meinung in Deutschland und in den europäischen Staatskanzleien durchsetzt?

Peer Steinbrück: Wenn ich mir die Diskussion der letzten Tage anschaue, dann wächst endlich das Realitätsbewusstsein dafür, dass Griechenland eine Umschuldung braucht. Bei Eurobonds bin ich gar nicht so explizit, wie sie glauben. Eurobonds werden sie erst durchsetzen können, wenn sie wirklich eine deutliche Angleichung der Wirtschafts- und Fiskalpolitik haben, und wenn eine europäische Institution Eurobonds emittieren kann - und zwar mit Auflagen für diejenigen, die an der Bonität anderer Staaten teilhaben, und mit Sanktionen für den Fall der Verletzung dieser Auflagen.

STANDARD: Ist die Vereinbarung der EZB, den Banken für ein Jahr unbeschränkt Geld zur Verfügung zu stellen, eine Vorbereitung auf eine Insolvenz Griechenlands?

Steinbrück: Das ist keine ganz neue Maßnahme der EZB, sie hat schon in der ersten Phase der Bankenkrise zu sehr niedrigen Zinsen die Banken unbeschränkt mit Liquidität versorgt. Das ist eine Reaktion auf die augenblicklichen Instabilitäten. Sehr viel skeptischer bin ich, wenn die EZB weiter ins Risiko genommen wird, vor dem Hintergrund eines Versagens des politischen Managements. Ich bin strikt dagegen, dass die EZB weitere Risiken auf ihre Bilanz zieht.

STANDARD: Gibt es denn überhaupt ein politischen Management?

Steinbrück: Ich könnte es mir jetzt leicht machen und mit dem pädagogischen Zeigefinger rumfuchteln. Aber auch aus einer neutralen Ecke und nicht übertrieben gesprochen: Die Qualität des politischen Krisenmanagements der letzten eineinhalb Jahre entspricht nicht der Dimension der Herausforderung.

STANDARD: Was hätten Sie anders gemacht?

Steinbrück: Man hätte sehr viel früher Griechenland entschulden müssen. Man hätte sich viel früher Gedanken machen müssen über eine daraus folgende Notwendigkeit, manche Banken zu rekapitalisieren. Man hätte bereits längst an einem europäischen Bankeninsolvenzrecht arbeiten müssen, damit einige Banken auch geordnet abgewickelt werden können. Man hätte sich sehr viel früher über ein wirtschaftliches Erholungsprogramm von Griechenland nicht nur Gedanken machen müssen. Und man hätte sehr viel früher die EZB davor bewahren müssen, in diesem Umfang Staatsanleihen aufkaufen zu müssen.

STANDARD: Warum ist das nicht geschehen? Weil Politiker gerne lau baden und den Bürgern nicht die Dramatik der Lage klar machen konnten oder wollten?

Steinbrück: Weil viele sich selber und ihren Wählern nicht reinen Wein einschenken wollten, aus einer gewissen Konfliktunfähigkeit.

STANDARD: Spielen Sie da auf Frau Merkel an?

Steinbrück: Ich kann mich erinnern, wie es jedenfalls in Deutschland im März oder April 2010 hieß: Die Griechen kriegen keinen Cent. Ich kann mich erinnern, wie gesagt wurde, der temporäre Euro-Rettungsschirm wird wahrscheinlich nicht in Anspruch genommen werden. Schwuppdiwupp wurde er in Anspruch genommen. Ich kann mich erinnern, wie gesagt wurde, der Rettungsschirm sei zeitlich terminiert. Und unmittelbar danach war von einem permanenten Rettungsschirm die Rede. Ich kann mich erinnern, wie von automatisierten Sanktionsmechanismen die Rede war. Und plötzlich waren die wieder aufgegeben. Mit diesen wenigen Beispielen sehen sie, welche Pirouetten es gegeben hat. Und diese Verwirrungen haben gewirkt - auf Partnerländer, auf Märkte und auf die eigene Bevölkerung.

STANDARD: Es gibt Finanzwissenschaftler, die behaupten, eine Pleite Griechenlands 2009 hätte 50 bis 70 Milliarden gekostet. Jetzt kostet es viel mehr. Sehen sie das auch so?

Steinbrück: Ich kann solche Zahlen nicht verifizieren. Ich glaube aber, dass man sehr viel früher zu einem konsistenteren und umfassenderen Krisenmanagement hätte finden müssen, und dass das bisherige Krisenmanagement gescheitert ist. Denn das besteht im Wesentlichen nur aus zwei Komponenten: Nämlich den Kapitaldienst von Griechenland zu finanzieren, ohne dass sich für die Griechen irgendetwas realökonomisch ändert, und zweitens den Griechen ein Diätprogramm zu verschreiben, dass sie eher aufs Krankenlager bringt als wieder auf die Beine.

STANDARD: Nocheinmal zu den Bürgern: Wieso soll ein Finne für griechische Verbindlichkeiten aufkommen? Wie erklärt man das auch den Steuerzahlern in Österreich oder in Deutschland?

Steinbrück: Das ist der entscheidende Punkt. Die Politik hat keine Erzählung und Erklärung geboten. Und deshalb gibt es diese Unsicherheit, bis hin zu einer euroskeptischen, wenn nicht euroablehnenden Haltung. Woraus dann auch rechtspopulistische oder sogar nationalchauvinistische Parteien in Europa Funken schlagen. Aus deutscher Sicht müsste die Erklärung lauten, dass dieses Deutschland nur mit und in Europa eine Chance hat, in der Champions-League weiterzuspielen. Und für ein so exportgetriebenes Land wie die Bundesrepublik Deutschland ist es von entscheidender Bedeutung, nicht wieder eine Renationalisierung des Euro in einzelne Währungen zuzulassen, weil die D-Mark aufgewertet werden würde bis zum Mond, die anderen würden abgewertet werden bis zum Mittelpunkt der Erde. Und viel weitergehender bedeutet es, dass über eine monetäre Renationalisierung wir es auch mit einer politischen Renationalisierung zu tun hätten, und das vor dem Hintergrund, dass dieses Europa sich eigentlich formieren muss, um mit den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts fertig zu werden.

STANDARD: Sie haben von euroskeptischen Stimmen gesprochen. In Österreich haben wir die FPÖ und das BZÖ, in Deutschland hat das selbe für die FDP nicht funktioniert.

Steinbrück: Positiv ist zunächst mal festzuhalten, dass es in Deutschland auf Bundesebene keine rechtsradikale Partei von nennenswerter Bedeutung gibt. Das kann zu tun haben mit der deutschen Geschichte und einer tiefsitzenden Traumatisierung durch die Zeit und die Folgen durch Adolf Nazi. Auf der anderen Seite wäre ich da als Deutscher nicht so selbstgewiss. Wenn es eine Figur gäbe, die diese Kräfte sammeln könnte und darüber es zu einer Parteigründung käme, glaube ich, dass Deutschland dem Normalzustand der in skandinavischen Ländern, in den Niederlanden und in Österreich ähneln würde. Das heißt, einen Anteil hat von bis zu zehn Prozent einer solchen rechtsradikalen Partei aufweisen würde.

STANDARD: Wir sprechen in Österreich von rund 28 Prozent.

Steinbrück: Das ist allerdings die Ausnahme, und das hat auch etwas zu tun mit gewissen - ich nenne es mal sehr höflich weil ich bei ihnen zu Gast bin - Ermüdungserscheinungen der etablierten Parteien in Österreich, dass plötzlich Herr Strache die Vorstellung hat, er könnte spielend stärkste Partei mit einer FPÖ werden. Aber das ist ja eher die Ausnahme in Europa. Trotzdem: wir stellen fest in Finnland, in Schweden, in den Niederlanden, in Ungarn haben wir es mit einem nennenswerten Anteil eher rechtskonservativer bis nationalchauvinistischen Parteien zu tun.

STANDARD: Sehen Sie in Deutschland auch die Ermüdungserscheinungen, die ihnen in Österreich auffallen?

Steinbrück: Ich sehe in Deutschland einen massiven Vertrauens- und Zutrauensverlust zu den beiden großen Parteien.

STANDARD: Wie kann man dem als Sozialdemokrat begegnen?

Steinbrück: Sie können Vertrauen nicht plötzlich zurückdekretieren. Das müssen sie sich erarbeiten, das dauert sehr lange, und es bedeutet dass man erklärt, dass man Konsistenz zeigt, dass man klaren Text redet, dass man wirbt, dass man Profil zeigt, und dass die Parteien sich öffnen müssen. Dass ihre Kommunikations- und ihre Veranstaltungsplattformen einfach nicht mehr zeitgemäß sind und von den Bürgern auch nicht mehr als interessant wahrgenommen werden.

STANDARD: Wie wollen sie junge Wähler ansprechen? Im Berlinwahlkampf haben wir das Phänomen der Piraten gesehen - da haben ja alle etablierten Parteien alt dagegen ausgesehen.

Steinbrück: Die Piraten sind Ausdruck dessen, was wir gerade diskutieren - nämlich eines Vertrauens- und Zutrauensverlustes gegenüber den etablierten Parteien und ihrer selbstreferentiellen Züge. Die sprechen Leute an, die auch mal gegen den Strich bürsten wollen, die auch diesen etablierten Teil der Politik provozieren und abstrafen wollen, und plötzlich einer Partei eine Stimme geben, obwohl sie gar nicht wissen, wofür diese Partei steht. Deshalb mache ich auch gar keinen Hehl daraus, dass die etablierten Parteien, einschließlich der SPD, sich nicht so sicher sein sollten, dass das Parteienspektrum am Ende dieses Jahrzehnts noch so aussieht wie heute. Unsere Sprache muss anders werden, wir müssten uns konzentrieren auf die zentralen Fragen, wir müssen erklären, wir müssen Angebote der Teilhabe am öffentlichen Dialog machen. Wir müssen diesen politischen Frontalunterricht vermeiden, und Lösungskonzepte erarbeiten, die überzeugend sind. Und daran hapert es.

STANDARD: Wer würde das machen in Ihrer Partei 2013? Haben Sie schon am Zaun des Kanzleramts gerüttelt?

Steinbrück: Neee, das Foto hätten Sie gerne! Es gibt ein sehr enges Verhältnis zwischen Gabriel, Steinmeier und mir. Und das bedeutet, dass wir keine Gladiatorenkämpfe im Sand der Arena liefern. Für mich stellt sich die Frage dann, wenn der Parteivorsitzende mir diese Frage stellen sollte. Und ich bin mit Sigmar Gabriel einig, sie stellt sich jetzt nicht.

STANDARD: Noch einmal auf die europäische Ebene: Man hat den Eindruck, zum ersten Mal seit Jahrzehnten läuft dieses europäische Projekt Gefahr, dass es abgewickelt und zurückgeführt werden könnte.

Steinbrück: Sie beschreiben das exakt richtig, wir stehen da an einem Scheideweg und da gibt es keine Mischform. In die eine Richtung weist den Weg, dass wir die bisher erreichte Integration wieder zurückführen und zu einer relativ losen Staatengemeinschaft, letztlich zu einer Art Freihandelszone, werden, wo alle souveränen Rechte bei den Nationalstaaten belassen werden. Keiner haftet für den anderen, wenn jemand abstürzt dann stürzt er ab. Und die andere Seite dieses Scheideweges ist: Wir vertiefen die Integration und geben dabei auch souveräne Rechte ab an europäische Institutionen und versuchen uns sehr viel stärker nicht nur zu verabreden, sondern zu koordinieren über bestimmte Mechanismen, insbesondere in der Wirtschafts- und Fiskalpolitik, aber eventuell auch darüber hinaus mit Blick zum Beispiel auf Sozialstandards. Genau an dieser Marke stehen wir.

STANDARD: Aber sind die deutschen Politiker dazu bereit und sind auch die Menschen dazu bereit?

Steinbrück: Man muss es den Bürgern erklären. Seit eineinhalb Jahren erklären wir den Menschen zu wenig, dass dieses Europa die Antwort sowohl auf 1945 als auch die Antwort auf das 21. Jahrhundert mit vielen Herausforderungen ist. (DER STANDARD, Printausgabe, 11.10.2011)