Lukensmeyer: Paradoxe Situation in Europa.

Foto: Standard

Wien - Die Verschuldung der Industriestaaten in Nordamerika und Europa ruft immer mehr Kritiker auf den Plan. Institutionen wie der Internationale Währungsfonds haben wiederholt gefordert, dass es glaubwürdige Strategien zur Budgetkonsolidierung geben muss, damit das Wachstum nicht dauerhaft geschädigt wird.

Doch um den Weg zu einem ausgeglichenen Budget entbrennen regelmäßig politische Grabenkämpfe. In den USA etwa waren Medien und Politik diesen Sommer paralysiert, weil die Anhebung der Schuldengrenze im August bis zur letzten Minute wegen eines Dauerstreits um Steuererhöhungen zwischen Demokraten und Republikanern auf der Kippe stand. Das hat auch das Ansehen der Politik geschädigt.

Das Vertrauen der US-Bürger in den Kongress ist auf dem tiefsten Stand seit den 1970er-Jahren, zeigt eine aktuelle Umfrage von vergangener Woche, durchgeführt von ABC News und der Washington Post. Gleichzeitig wird die Budgetpolitik von immer mehr US-Amerikanern kritisch gesehen. "Der Streit um das Schuldenlimit hat viel politisches Kapital zerstört und die Bürger weiter von den Institutionen entfernt", beklagt Carolyn Lukensmeyer, Präsidentin der NGO AmericaSpeaks.

Daher sei es an der Zeit, die Öffentlichkeit besser in den Konsolidierungsprozess einzubinden: "Gerade wenn Regierungen ihre Budgets kürzen müssen, ist die Partizipation der Bürger wichtig, um die Akzeptanz der Entscheidung zu erhöhen." Carolyn Lukensmeyer ist die Gründerin von AmericaSpeaks, einer zivilgesellschaftlichen Organisation, deren Ziel es ist, Bürger in Entscheidungsprozesse um Budgetfragen und ähnlich polarisierende Themen wie Immigration miteinzubeziehen. Konkret veranstaltet die Nichtregierungsorganisation "Bürgerforen" mit mehreren tausend Teilnehmern. Themen wie Budgetpolitik oder Klimawandel werden in diesen Foren über mehrere Stunden debattiert, abschließend wird darüber abgestimmt.

Im Sommer 2010 etwa veranstaltete AmericaSpeaks eine Debatte zur aktuellen US-Haushaltspolitik. 3500 Teilnehmer aus allen Bundesstaaten, repräsentativ für die amerikanische Gesellschaft, nahmen daran teil. Zu Beginn waren die Fronten klar abgesteckt. Wie auch die Repräsentanten im Kongress lehnten Demokraten Einschnitte in Sozialsystemen ab, die Republikaner wollten keine Steuererhöhungen. "Als es um die Problemlösung ging, haben 85 Prozent der Demokraten Einschnitte in Kauf genommen und 87 Prozent der Konservativen die Steuern erhöht", betont Lukensmeyer, die auch Beraterin im Weißen Haus in der Ära Clinton war. Am Ende seien die amerikanischen Bürger eben kompromissbereiter als ihre Repräsentanten im Kongress.

Arbeitsbedarf sieht sie nicht nur in den USA. Es sei paradox, dass gerade in Europa mit deutlich weiter reichenden Sozialsystemen noch weniger Wert auf die Partizipation von Bürgern bei wichtigen Entscheidungen gelegt werde. Lukensmeyer war im September auf Einladung der Integrated Consulting Group in Wien, um ein Seminar über Beteiligungsprozesse zu halten. In Europa seien es gerade Partizipationsprozesse, die auf lokaler Ebene, etwa im Gemeindebereich, ablaufen, die betont werden, weniger nationale oder europaweit "heiße" Themen.

Dabei sei breite Bürgerbeteiligung etwa in Kanada fixer Bestandteil des politischen Diskurs. Damit schaffe man bessere Identifikation der Bürger mit politischen Entscheidungen. Dass die Kanadier mehr Geld für ihre Partizipation aufwenden als die fast zehnmal größeren USA, ist für Lukensmeyer kein Problem: "Leute nicht zu fragen ist deutlich teurer." (Lukas Sustala, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 10.10.2011)