Dieter Schmutzer: "Je schwieriger die Zeit, desto mehr suchen Menschen nach einem starken Mann. Wir kennen das aus der Historie: In einem blühenden Reich gibt es kein Drittes Reich."

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Ausgebrannt und doch sein Bestes geben – ein Teufelskreis.

Die Wirtschaftskrise geht auch an der österreichischen Seele nicht spurlos vorbei. Ängste, Sorgen um den Job, aber auch der zunehmend rauhe und respektlose Umgang seitens der Vorgesetzen machen den Menschen zu schaffen. Warum in Krisenzeiten dennoch der Wunsch nach einem Scheusal als Chef überwiegt, immer mehr Jugendliche sich ihren Frust "wegsaufen" und die Frage nach dem Pensionsantrittsalter womöglich bald obsolet sein könnte, erklärt Lebens- und Sozialberater Dieter Schmutzer im Interview mit derStandard.at.

derStandard.at: Kommen seit Ausbruch der Wirtschaftskrise mehr Klienten in ihre Praxis?

Dieter Schmutzer: Nein, die Anzahl ist annähernd gleich. Ich könnte weder sagen, dass weniger kommen, weil sie kein Geld haben, noch, dass mehr kommen, weil die Probleme zunehmen. Was sich allerdings sehr wohl verändert hat, sind die Inhalte: Der Alltag, das miteinander Leben ist zunehmend geprägt von finanziellen und ökonomischen Sorgen. Nicht, dass es das früher nicht auch gab, aber es waren doch Einzelfälle. Mann hat eine fiktive oder aber auch eine reale Freundin, Mann ist mit der Arbeit verheiratet usw. waren die "Klassiker". Inzwischen brauchen deutlich mehr Menschen Hilfe, weil sie die Arbeit verloren haben bzw. fürchten, sie zu verlieren, was sich häufig auch auf die Beziehung auswirkt.

derStandard.at: Wie gehen die Menschen mit den Ängsten in der Arbeitswelt um?

Schmutzer: Aus Angst vor einem Jobverlust, die Furcht, der Nächste auf der Liste zu sein, bewirkt häufig, dass die Leute noch mehr Zeit in die Arbeit investieren, sich noch mehr ausnutzen lassen und frustriert nach Hause kommen, weil ihnen immer mehr abverlangt wird. Besonders Frauen reagieren so.

derStandard.at: Mit welchen Konsequenzen?

Schmutzer: Die Leute werden depressiver, landen häufiger im Burn-Out. Unlust an der Arbeit, Mangel an Energie und Motivation, Dauerkrankenstand sind nur einige der psychogenen Symptome. Sie erleben ein Arbeitsumfeld mit Mega-Stress, das ihnen immer mehr abverlangt. Bis hin zum Dilemma. Ein Beispiel: Ein Bankangestellter muss Zahlen, Zahlen, Zahlen schreiben, verkaufen, verkaufen, verkaufen. Der Druck steigt. Erreicht er sein Ziel nicht, stehen die gesamte Abteilung und die Filiale schlecht da. Aber wie soll er reagieren, wenn er einer 85-jährigen Frau einen Bausparvertrag verkaufen soll, nur um das Quantum an Verkaufszahlen zu erreichen? Menschen, die diesen Stress und diesen Druck pausenlos vermittelt bekommen, sind psychisch schwer bedient.

derStandard.at: Die Wachstumsprognosen für die Wirtschaft sehen auch für das kommende Jahr düster aus.

Schmutzer: Die Arbeitslosigkeit wird steigen und auch die Zahl derer, die in Teilzeit arbeiten müssen. Es wird immer mehr Menschen geben, die um ihren Arbeitsplatz zittern und dadurch – und das sage ich jetzt ganz bewusst so – erpressbarer werden und sich noch mehr gefallen lassen. Unterm Strich wird sich die Frage, ob wir das Pensionsalter erreichen, nicht stellen: Die Menschen werden tendenziell mit 55 Jahren in Arbeitsunfähigkeitspension gehen.

derStandard.at: Wie hat sich der Arbeitsalltag seit der Krise noch verändert?

Schmutzer: Der Umgangston in vielen Firmen ist deutlich rauher geworden. Der respektlose Umgang mit den Mitarbeitern, aber auch unter den Kollegen ist extrem belastend. Früher wurde dieses Thema in der Hauptsache im Supervisionsbereich behandelt, heute kommen immer häufiger Einzelpersonen mit dem Problem zu mir in die Praxis.

derStandard.at: Was raten Sie den Betroffenen?

Schmutzer: Man kann die Menschen coachen. Es gibt Möglichkeiten, sich zu schützen, sich zu wehren, Grenzen zu setzen. Allein das Wissen um diese Werkzeuge hilft oft. Das große Aber: Theoretisch greifen diese Strategien, doch in der Arbeitswelt überwiegt häufig wieder die Furcht, den Job zu verlieren. Der bekannte Teufelskreis beginnt: Angst vor Jobverlust, ich muss das alles aushalten, ich leide weiter unter Stress, leide weiter unter der Art, wie man mit mir umgeht.

derStandard.at: Woher nehmen Arbeitnehmer die Energie, das auszuhalten?

Schmutzer: Genau das ist das Problem. Energie ist nicht beliebig vermehrbar: Wie wir wissen, gibt es kein Perpetuum Mobile. Eigenmotivation ist gut und schön und nett, kommt aber von der anderen Seite so gar nichts, sind irgendwann auch diese Reserven aufgebraucht. Ich sehe eine riesige Gefahr für die nähere Zukunft darin, dass wir im Arbeitsprozess eine große Mehrheit demotivierter und psychisch angeschlagener Menschen haben. Was im Moment noch mühsam aufrechterhalten wird, steht auf tönernen Füßen.

derStandard.at: Der Ausweg?

Schmutzer: Menschen entwickeln ein gewisses Maß an Selbstheilungskraft, wenn sie ein Stück weit unterstützt werden. Manche belohnen sich bewusst mit Dingen, die ihnen selbst gut tun. Da und dort stellen sich Mitarbeiter gemeinsam auf die Hinterfüße, um etwas gegen schlechte Arbeitsbedingungen zu bewirken. Allerdings passiert das immer noch viel zu wenig oft. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass in Gruppen-Supervision sehr viel mehr Potenzial steckt als bei Einzelpersonen.

derStandard.at: Sind diese Supervisionen heute häufiger nachgefragt?

Schmutzer: Es gibt Einrichtungen, wo es schon lange üblich ist, Supervisionen anzubieten, wie beispielsweise im Sozialbereich – hier sind sie sozusagen "State of the Art". Erstaunlicherweise verdrängt aber selbst in dieser Branche das Thema "Arbeitsplatzsituation" seit einigen Jahren die inhaltliche Auseinandersetzung, respektive Teamkonflikte. Ich beobachte außerdem, dass heute immer mehr Unternehmen aus dem wirtschaftlichen Bereich Supervision nachfragen.

derStandard.at: Fachliteratur zum Thema "Wie werde ich ein guter Chef?" überschwemmen die Buchhandlungen. Gleichzeitig wird das Arbeitsumfeld für viele Mitarbeiter zum Minenfeld. Ein Widerspruch?

Schmutzer: Die Literatur boomt in der Tat. Wir alle kennen Titel wie "Respektvoller Umgang mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern" – schön gegendert natürlich -, "Kollegiale Führung", "Der Beziehungscoach in der Firma" und wie sie alle heißen. Ich weiß nicht, ob diese Bücher auch gelesen oder nur verlegt und gekauft werden. Allerdings habe ich den Eindruck, dass das Angebot an dieser Fachliteratur extrem steigt, aber nicht annähernd in demselben Maße sich das Verhalten ändert – ohne, dass ich über Chefs oder Chefinnen herziehen möchte. Ich höre immer wieder von Supervisionen, die Führungskräfte im Umgang mit Mitarbeitern coachen. Auf der anderen Seite erfahre ich von selbigen Mitarbeitern, wie mit ihnen seitens der Chefitäten nach dem Coaching umgegangen wird. Da drängt sich natürlich die Frage auf, was die Führungskräfte dort gelernt haben. Ich fürchte, dass in Büchern und Coaching zum Teil auch vermittelt wird, wie man noch mehr aus den Leuten herauspressen kann. Natürlich wird auch die Führungsqualität gestärkt, aber nicht unbedingt durch respektvollem Umgang mit Mitarbeitern.

derStandard.at: Was zeichnet Führungsqualität aus?

Schmutzer: Ein Chef oder eine Chefin muss natürlich ganz klare Entscheidungen treffen, selbst, wenn sich diese nicht 100-prozentig mit den Interessen der Mitarbeiter decken. Der Chef muss die Interessen der Firma im Auge behalten und nicht nur die Befindlichkeiten seiner Mitarbeiter. Wichtig wäre es allerdings, dass er weiß, wie er die Interessen vermittelt. Der Mitarbeiter soll wissen, warum manches sinnvoll aus und warum es jetzt dazu keine Diskussionen gibt. Leitung ist eine Funktion, sie hebt den respektvollen Umgang auf der Beziehungsebene nicht auf. Heute dominieren leider Führungs- und Durchsetzungstechniken.

derStandard.at: Denken Sie, dass viele Chefs einen Widerspruch zwischen Respekt und Durchsetzungshärte sehen?

Schmutzer: Ja. Viele Chefs, aber auch Mitarbeiter können sich nicht vorstellen, dass solche hierarchisch funktionalen Strukturen nichts damit zu tun haben, wie man miteinander umgeht. Es herrscht immer noch die Attitüde vor, dass man als Chef auf den Tisch hauen muss – eine ziemlich ungehobelte Verhaltensform, wie ich meine – und grundsätzlich auch nicht notwendig. Erstaunlicherweise erwarten das Mitarbeiter sogar oft. Sie wollen klare Anweisungen vom Vorgesetzten und sind mitunter völlig verblüfft, wenn jemand "bitte" und "danke" sagt.

derStandard.at: Laut einer Studie der Stanford Universität ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es ein Scheusal eher in den Chefsessel schafft – freundliche Menschen sind offenbar nicht erwünscht. Wie erklären Sie sich das?

Schmutzer: Dieses Ergebnis wundert mich überhaupt nicht. Wir sind damit aufgewachsen, dass die Qualität des Vorgesetzten in Klarheit und Härte besteht. Vielleicht kommt es nur mir so vor, aber je schwieriger die Zeit, desto mehr suchen die meisten nach einem starken Mann – heute darf es manchmal sogar eine Frau sein. Ich bin mir ziemlich sicher, dass diese Studie vor zehn Jahren ein anderes Ergebnis gezeigt hätte. Damals ging der Trend zur kollektiven Führung. Diskussionen, ob etwas gerecht ist oder für alle stimmig, haben in einem schwierigen Umfeld keinen Platz, was sich durchaus mit historischen Erfahrungen deckt: Ein Führer hat dann eine Chance, wenn es der Wirtschaft schlecht geht und die politischen Verhältnisse instabil sind – in einem blühenden Reich gibt es kein Drittes Reich.

Dazu kommt das archetypische Bild vom Leithammel, dem man sich anschließt. In einer schwierigen Zeit fällt das leichter – man ist auf der Suche nach Orientierung, weil man die Situation selbst nicht mehr überblickt oder sich auch den Luxus nicht mehr leistet, diese von allen Blickwinkeln zu betrachten. Ein Leithammel prescht vor, ohne sich darum zu kümmern, ob er hinter sich Leute verliert – oder Schafe.

derStandard.at: Wie nehmen Sie das Alkoholproblem in Österreich wahr? Ertränken die Menschen ihre Sorgen heute häufiger?

Schmutzer: Ja, und die Tendenz steigt seit einigen Jahren. Immer mehr Menschen, die ihren Job verlieren, wirtschaftliche Ängste etc. haben, greifen zu dem probaten "Schlückchen in Ehren". Die Sorgen werden dadurch nicht kleiner, im Gegenteil. In Österreich gibt es über eine Million Menschen, die aus medizinischer Sicht alkoholgefährdet sind. Das ist an sich nichts Neues, denn Österreich hat eine lange Alkoholtradition. Neu ist der eklatante Anstieg an jugendlichen Trinkern. Natürlich ist das Thema heute medial präsenter, trotzdem ist man früher nicht mit dem Vorsatz auf eine Party gegangen, sich nieder zu saufen. Heute gehört das Trinken schon fast zur üblichen Wochenendbeschäftigung von Jugendlichen. Das Einstiegsalter zum Trinken ist deutlich nach unten gegangen und auch das Alter derer, die regelmäßig Alkohol konsumieren.

derStandard.at: Die Gründe?

Schmutzer: Es gibt ganz offensichtlich eine Korrelation zwischen dem Phänomen Jugendarbeitslosigkeit, immer schlechteren Schulabschlüssen und den damit verbundenen miesen Aussichten am Arbeitsmarkt, dem daraus resultierenden Frust und Alkoholkonsum als Mittel zur vorübergehenden Flucht. Gleichzeitig wollen sich die Burschen in ihrer an sich schwachen Position in ihrer Männlichkeit beweisen, Stärke zeigen und saufen sich an. Alkohol als Folge fehlender Gestaltungsmöglichkeiten, Bekämpfung von Langeweile und Sinnleere ist eine äußerst bedenkliche Entwicklung.

derStandard.at: Die falschen Vorbilder?

Schmutzer: In Cliques, in Peer Groups – überall sieht man die Trinkenden. Nichts gegen Feiern. Aber wenn es all-inklusive-Maturareisen in Camps mit 3.000 Jugendlichen gibt, für die auch noch mit den unfassbaren Worten "Wir machen Party, bis zum Umfallen" geworben wird, sollte uns das schwer zu denken geben. Diese Partys werden als das Non plus Ultra von Feierkulturen dargestellt.

Vor kurzem habe ich mir erstmals die Sendung "Saturday Night Fever" auf ATV angesehen: Eine Gruppe von Burschen und eine von Mädchen werden auf ihrer Samstag-Sauftour durch Discos und Lokale von einem Kamera-Team begleitet. Am Ende sieht man lallende, besoffene, verschwitzte Jugendliche in entwürdigenden Zuständen. Im Internet werden die Protagonisten als Stars gefeiert. Unfassbar. Das TV-Publikum sind bereits Zwölfjährige. So eine Sendung gehört – das sage ich in aller Schärfe – verboten. (Sigrid Schamall, der Standard.at, 10.10.2011)