Die ehemalige Residenz einer Brauereifamilie im 19. Bezirk ist seit 1918 eine städtische Einrichtung für Kinder und Jugendliche, die einen Platz zum Schlafen und Leben brauchen.

Foto: DER STANDARD/Heribert Corn

Wien - Die zwei grinsenden Wale sind der einzige Hinweis darauf, dass das leuchtend weiße Gründerzeithaus mit dem kleinen Park davor keiner reichen Döblinger Familie gehört. Das Logo der Wiener Jugendwohlfahrt klebt, leicht vergilbt, an der Klingel beim Eingangsportal. Den Knopf neben dem großen und dem kleinen Meeressäuger hat aber schon lange niemand mehr gedrückt. Wozu auch: Das Tor, das einst zum schmiedeeisernen Gartenzaun gehörte fehlt, und die Tür zum Haus ist offen.

Drinnen wirkt die Villa weit weniger großbürgerlich. Garderobenkasteln aus dem schwedischen Möbelhaus, bunte Sofas, lustige Tierposter - in einem Türrahmen hängt ein Sandsack, daneben ein Zettel mit der Aufschrift: "Bitte hier abreagieren! Handschuhe sind im Dienstzimmer!" Auf zwei Etagen leben Kinder und Jugendliche, die eine sogenannte Fremdunterbringung brauchen - also aufgrund ihrer familiären Verhältnisse nicht zu Hause leben können. Das Gebäude gehörte einst einer Brauereifamilie und ging 1918 in den Besitz der Stadt über - ob als Geschenk oder als Kaufobjekt lässt sich nicht mehr nachvollziehen.

Das Haus Döbling ist eines der wenigen städtischen Kinderheime, die sämtliche Reformen der Jugendwohlfahrt überlebt haben. Ähnliche Einrichtungen wie die Stadt des Kindes oder das Charlotte-Bühler-Kinderheim wurden vor Jahren im Zuge der Dezentralisierung geschlossen.

Wobei man den Begriff Kinderheim inzwischen auch in Döbling tunlichst vermeidet und lieber von einer sozialpädagogischen Einrichtung spricht. Denn die Zeiten, in denen die Zöglinge unter Drill und beengten Wohnverhältnissen litten, sind längst vorbei.

Bis in die Siebzigerjahre teilten sich 80 Kinder einen Schlafsaal. So wie in anderen Großheimen wandten auch hier Erzieher Gewalt an: Ein Teil der zwei Millionen, die die Stadt für Entschädigungszahlungen von Gewaltopfern in Wiener Heimen bereitgestellt hat, ging an ehemalige Schützlinge des Hauses in der Hartäckerstraße.

"Früher gab es sehr starre, interne Machtstrukturen" , sagt Karin Walter,Regionalleiterin der sozialpädagogischen Einrichtungen im 15., 16., 17., 18. und 19. Bezirk, "da ist kaum etwas nach außen gedrungen." Heute sei dies nicht mehr möglich, weil man auf wesentlich kleinere Einheiten setze und regelmäßig Psychologen von außen hinzuziehe. "Die Kinder sind dem System Heim nicht mehr so ausgeliefert."

Drei Wohngemeinschaften

Derzeit sind 24 Kids in der Villa untergebracht, aufgeteilt auf drei Wohngemeinschaften. Michael, schwarze Brille auf der Nase, Baseballkäppi auf dem Kopf, lebt seit drei Jahren hier. "Klar würde ich lieber zu Hause wohnen" , sagt der 17-Jährige, "aber das geht halt nicht." Seine Mutter habe mit seinen zwei kleinen Schwestern schon genug zu tun.

Ins Heim gekommen ist Michael, nachdem die Schulpsychologin auf die vielen blauen Flecken auf seinem Körper aufmerksam wurde. "Ich wollte halt meine Mutter vor dem Vater schützen." Obwohl die Eltern inzwischen geschieden sind, wird Michael vom Heim in eine eigene Gemeindewohnung ziehen - sobald er seine Lehre zum Matrosen bei der Donaudampfschifffahrtsgesellschaft abgeschlossen hat. Seine Mutter und die beiden Schwestern will er weiterhin besuchen. "Sie sind schließlich meine Familie."

So wie Michael hat gut die Hälfte der im Haus Döbling betreuten Kinder Kontakt zu ihren Familien. Die meisten übernachten am Wochenende und in den Ferien zu Hause. Eine komplette Rückkehr sei meist dennoch nicht möglich, sagt der pädagogische Leiter Michael Sageder: "Viele Eltern können den normalen Alltag nicht bewältigen - und es würde erneut eskalieren oder zu einer Verwahrlosung kommen." Die Zahl der Kinder, die einen Platz in einer sozialpädagogischen Einrichtung oder eine Pflegefamilie brauchen, ist in Wien gestiegen: 2006 waren 2600 fremdbetreut, derzeit sind es 3100. Das hängt laut Regionalleiterin Walter auch mit dem Umstand zusammen, dass sich immer weniger Sozialarbeiter trauen, Kinder ohne weitere Betreuung nach Hause zu schicken. "Ein gewisses Restrisiko besteht immer - und wenn dann wirklich etwas passiert, wird der Sozialarbeiter dafür verantwortlich gemacht."

Michael verbringt seine Heimzeit am liebsten mit Fußballspielen im Garten und schart dabei regelmäßig eine Horde jüngerer Mitbewohner um sich. "Ich komme sicher auch hin und wieder vorbei, wenn ich eine eigene Wohnung habe" , sagt er und kickt den Ball zu einem Buben im Rapid-Leiberl, "zum Schauen, wie es euch so geht." (Martina Stemmer/DER STANDARD, Printausgabe, 8./9.10. 2011)