"Was ist spannender: Erfinden oder Finden? Diese Frage stelle ich mir oft": Michael Köhlmeier.

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Was einen guten Erzähler ausmacht, sagte er Judith Hecht.

STANDARD: Haben Sie nie daran gedacht, selbst ein Märchen zu erfinden?

Köhlmeier: Ich glaube, ich würde bei der Frage steckenbleiben: Was ist ein Märchen? Eine ewige Umformung von ewig Gleichem. Wäre eine mögliche Antwort. Natürlich hat es Dichter gegeben, die Märchen erfunden haben - Hans Christian Andersen, Wilhelm Hauff, Oscar Wilde -, aber sie sind in der tausende Jahre alten Märchentradition Ausnahmeerscheinungen, und wenn man ihre Werke näher betrachtet, beziehen sich gerade die besten eben doch auf Vorbilder. Der schöpferische Akt beim Märchen besteht mehr im Wie und nicht so sehr im Was. Das trifft allerdings auf alle Literatur zu, meine ich.

STANDARD: Heißt erzählen bewahren?

Köhlmeier: Was aber wird bewahrt? Es wäre leicht, den Inhalt von Romeo und Julia so zu erzählen, dass eine letztklassige Schnulze daraus wird. Was bewahren wir in Shakespeares Erzählung? Ich sag's pathetisch und mit Thomas Mann: den Geist der Erzählung selbst. Der Mensch ist ein erzählendes Tier. In der Erzählung eignen wir uns die Welt an. Die Erzählung ist das Eichamt meiner Wirklichkeit. Ich bewahre, ja, aber auf meine Weise. Das Wie steuert immer der Erzähler bei.

STANDARD: Soll sich der Leser nach der Lektüre denken: Das war "Der liebe Augustin" oder das war Köhlmeiers lieber Augustin?

Köhlmeier: Wenn ich erzähle, wird es immer "mein" lieber Augustin sein. Ein großer Teil der Literatur ist Umgestaltung, Neugestaltung, Interpretation von überlieferten Stoffen, Aneignung von Überbrachtem. Die Tragödie in der Antike bezog sich ausschließlich auf den Mythos. Shakespeare bedient sich in so gut wie allen seinen Stücken an Vorgefundenem. Thomas Mann erzählt in seiner Joseph-Tetralogie eine biblische Geschichte, in Der Erwählte variiert er eine Legende aus der Gesta Romanorum. Lassen Sie nur stehen, was sich Dichter ganz und gar selbst ausgedacht haben, ist plötzlich viel Platz auf den Regalen.

STANDARD: Ich habe irgendwann, ich glaube im "Falter", gelesen - da ging es um Ihre Nacherzählungen der griechischen Sagen - Sie würden "Recycling" betreiben.

Köhlmeier: Das hat wehgetan. Weil es nicht wahr ist.

STANDARD: Sie geben erzählend weiter, was Ihnen andere vorerzählt haben?

Köhlmeier: Ja, das tu ich. Und ich halte das für eine vornehme Tätigkeit. Aber ich tu' es nicht immer. Und immer tu' ich es auf meine Weise. Zum Beispiel in Das Sonntagskind. Das sind Märchen und Sagen aus Österreich, wie sie nur ich, nur ich erzähle.

STANDARD: Erzählen als Fortspinnen von Tradition. Wie steht es im Gegensatz dazu mit dem Kreieren von etwas noch nie Dagewesenem? Ist das der spannendere Prozess?

Köhlmeier: Ich habe eine Menge Romane, Novellen, Erzählungen geschrieben. Viel ausgedacht, viel erfunden. Aber was heißt erfinden? Wenn man die Augen aufmacht und hinschaut und dann eine Geschichte daraus macht, ist das gefunden oder erfunden? Was ist spannender: Erfinden oder finden? Diese Frage stelle ich mir oft. Sagen Sie!

STANDARD: Sie tun doch beides. Selbst wenn Sie nacherzählen, erfinden Sie immer etwas dazu. Das ist jedenfalls mein Eindruck.

Köhlmeier: Ich finde in mir - das nennt man dann erfinden. Oder besser: Es findet. Und ich schreibe es halt auf. Hat kaum etwas mit mir zu tun. Arbeit ist das nicht. Heiliges Vergnügen. Andererseits: Wer sich nie in die große Tradition von Erzählt-Bekommen und Weitererzählen begeben, nie den Stab übernommen und weitergereicht hat, der soll sich nicht Erzähler nennen, der ist ein Pointenschreiber. Und wer beim Weitererzählen nicht dazuerfindet, ist ein Archivar.

STANDARD: Im Übrigen frage ich mich, ob diese Unterscheidung bei Ihrer Arbeit praktisch von Relevanz ist.

Köhlmeier: Leser fragen: "Stimmt das? War das so?" Nach meinem Roman Abendland sagte mir ein Literaturkritiker, er habe diese und jene Person gegoogelt. Er ist nicht fündig geworden. Die Personen waren erfunden. Platon hätte die Dichter aus seinem Staat vertrieben, wenn er einen Staat gehabt hätte. Die Dichter lügen zu viel, sagte er. Er meinte: Sie lügen zu gut. Es muss genügen, wenn auf dem Umschlag "Roman" steht. Erzählen ist Arbeit am und im Konjunktiv. Nicht: War das so? Sondern: Hätte das so sein können.

STANDARD: Identifiziert sich der Leser leichter mit einer Figur, wenn er ein konkretes Vorbild vermutet? Ich spüre dahinter eine Sehnsucht.

Köhlmeier: Meinen Sie die Sehnsucht, es möge im Indikativ so sein, wie es im Konjunktiv sein könnte? Wenn ja, gilt das auch bei schrecklichen Figuren wie zum Beispiel Mr. Verloc in Joseph Conrads Der Geheimagent?

STANDARD: Sie sind selbst Leser und auch Zuhörer. Welche Emotionen begleiten Sie?

Köhlmeier: Ob Sie diese Sehnsucht in sich spüren, die Sie an ein Buch fesselt - ich glaube, das hängt einzig von der Verführungskraft des Autors ab. Ganz gleich, ob die Figuren sympathisch oder grauenerregend sind. Vielleicht sind Verführungskraft und Einbildungskraft das Gleiche: die Kraft, den Leser in ein Bild zu bannen. Wenn ein Autor darüber nicht verfügt, kann er Ihnen beschreiben, was er will, Sie werden sich nichts vorstellen können; dann sind Ihnen all seine Figuren gleich und gleichgültig; dann glauben Sie ihm nicht einmal, wenn die Ampel grün wird. Und wenn dann auch noch eine "Idee" hinter dem Ganzen zappelt - weg mit dem Buch! Wir verabscheuen Mr. Verloc, aber wir sind süchtig nach dem Roman, in dem er die Hauptrolle spielt. Welche Emotionen mich begleiten? Conrad, der Hund, zwingt mich, wie Mr. Verloc zu empfinden!

STANDARD: Die Sammlung "Märchen der Weltliteratur" besteht aus über 150 Bänden, die zusammen gut 30.000 Märchen umfassen. Sie stellen 100 Märchen vor. Wie trifft man die Auswahl?

Köhlmeier: Nach meinem Geschmack. Ich kann nicht alle Geschichten lesen.

STANDARD: Also willkürlich?

Köhlmeier: Ich habe mich auf zehn Themenbereiche eingeschränkt, zum Beispiel "Die Tür oder Bruder und Schwester" oder "Der Tod" oder "In die weite Welt hinaus". Ein anderer Herausgeber würde andere Themen wählen. Es wäre schön, wenn wir Einblicke in fremde Kulturen gewinnen, indem wir Märchen aus der Karibik lesen oder Märchen aus dem Sudan, aus Australien, aus Nepal.

STANDARD: Bestehen große Unterschiede zwischen den Märchen verschiedener Kontinente und verschiedener Kulturen?

Köhlmeier: Es gibt ein Märchen der Brüder Grimm, Das Mädchen ohne Hände, und es gibt ein japanisches Märchen mit demselben Titel und einem verblüffend ähnlichem Inhalt. Dann lesen wir ein Märchen aus Tibet, das uns in eine uns nur schwer zugängliche Welt führt. Johann Peter Hebel hat seine Erzähltheorie einmal so zusammengefasst: Er erzählt der Welt von seiner Heimat und seiner Heimat von der Welt. Daran musste ich denken, als ich die Märchen ausgesucht habe. Von Hebel sind zwei Geschichten im Buch.

STANDARD: Woher kommt Ihr starkes Faible für Märchen?

Köhlmeier: Ich habe mit Jazzmusikern zusammengearbeitet, und sie sagten mir, von Zeit zu Zeit müssten sie sich auf die Herkunft ihrer Musik besinnen, nämlich auf den Blues. Der Blues ist eine erschütternd einfache Form, meist bestehend aus nur drei Akkorden, manchmal aus zwei, im Spätwerk von John Lee Hooker nur noch aus einem Akkord. Aber die Möglichkeiten, sich in dieser Form auszudrücken, sind unendlich. Einen guten Blues zu spielen erfordert Ernsthaftigkeit, Liebe, Konzentration und ein Gespür für das Feine, die Nuance. Ich glaube, man kann diese Beobachtung auf die erzählende Literatur übertragen. Dort steht das Märchen für den Blues. (Judith Hecht, DER STANDARD/ALBUM - Printausgabe, 8./9. Oktober 2011)