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Neues Semester, altes Leiden: Universitätspolitik Marke chaotische Selbstorganisation - Hochschulbetrieb ohne ausreichend Geld, dafür mit Knockout-Prüfungen.

Foto: APA/Gindl

Der europäische Hochschulraum, der Kern der Bolognaerklärung, ist eine gute Idee. Einfache Wechsel der Studienorte, Austauschprogramme für Lehrende, intensive transnationale Vernetzung der Forschung. Insgesamt: einheitliche Regeln, die es möglich machen, dass sich die Vielfalt von allen nutzen lässt.

Leider ist es kaum mehr als eine Idee. Denn hinter ihr steht wenig hochschulpolitischer Wille und kaum Kenntnis der Hochschulpraxis. Das ist schade. Denn im Politikfeld Hochschule lassen sich politische Intentionen umsetzen. Mehr als ein Jahrzehnt Erfahrungen mit dem Bolognaprozess zeigt nun leider, dass es mit der politischen Gestaltung eines "Europa des Wissens" nicht weit her ist. Die Mobilität der Studierenden wurde eher gebremst, die Finanzierung der Unis bleibt weit hinter den Anforderungen zurück. Hochschulpolitik versucht eher, sich aus der Verantwortung zurückzuziehen, als zu gestalten.

Allerdings: Auch ohne Hochschulpolitik tut sich etwas. Tatsächlich ist ein transnationaler Hochschulraum im Entstehen, jedoch als unbeabsichtigter Nebeneffekt hochschulpolitischer Versäumnisse und nicht europaweit, sondern in erster Linie zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Wintersemester 2011/12 beginnt für die österreichischen Universitäten mit einem einsamen Rekord an Studieninteressierten aus Deutschland. Für die Schweiz zeichnete sich dasselbe ab, aber Ende August wurde die Notbremse gezogen: Zum Studium berechtigt sind nur noch jene Ausländer, die in ihrem Heimatland einen Studienplatz nachweisen können. Die Schweiz schüttelt damit die Lückenbüßerrolle für die deutsche Hochschulpolitik ab.

Dem EU-Mitglied Österreich versperrt der EuGH diesen Ausweg. Er fordert Gleichbehandlung der Studienplatzbewerber aus allen Mitgliedsländern. Dies wiederum weiß man in Österreich seit langem. Die Welle an Studieninteressierten aus der Bundesrepublik trifft die österreichischen Universitäten darum unvorbereitet, aber nicht unerwartet.

Man sieht sofort dreierlei: Erstens, die Transnationalisierung des Hochschulraumes findet statt. Zweitens, die Muttersprache definiert die Grenzen des gemeinsamen Hochschulraumes. Drittens, die Transnationalisierung ist stark asymmetrisch. Die Hauptursache dafür sind die national unterschiedlichen Formen der Bewirtschaftung des Mangels an Studiermöglichkeiten: restriktive Regulierung des Hochschulzugangs (Numerus clausus), pretiale Lenkung (Studiengebühren), chaotische Selbstorganisation (freier Unizugang mit Knockout-Prüfungen).

Die Asymmetrie zu Gunsten der Bundesrepublik liegt nicht nur an den Größenunterschieden. Dass proportional viel mehr deutsche Studierende nach Österreich kommen (wollen) als umgekehrt, liegt an der unterschiedlichen Durchlässigkeit der Eintrittsregeln: Ein Numerus clausus ist eindeutig, Eingangsprüfungen sind es nicht. Also sehen sich die österreichischen Universitäten eingeklemmt zwischen einer verblasenen Politik des freien Hochschulzugangs, dem Urteil des EuGH und der österreichischen Wissenschaftspolitik, die gelassen zusieht, wie die Universitäten ums Überleben kämpfen, und zwar seit Jahren: "Deutsche Studenten überrennen Ösi-Unis", schrieb Der Spiegel. Das war am 17. 1. 2006.

Heuer kommt ein besonders starker Ansturm aus Bayern nach Österreich, im kommenden Jahr aus Baden-Württemberg, beides der Umstellung von 9 auf 8 Jahre Gymnasium wegen. Die Aussetzung der Wehrpflicht in Deutschland kommt noch dazu. Obszön lesen sich vor diesem Hintergrund Stellenstreichpläne für deutsche Universitäten. Sie werden das Problem der Studiernomaden noch weiter verschärfen. Wenn DER STANDARD (13. 8. 2011) meint, die österreichische Regierung könne sich bei der Hochschulfinanzierung "ein Beispiel an Deutschland nehmen", so zeigt dies, dass die Situation in Österreich extrem schlimm sein muss.

Hat das Ganze auch irgendetwas Gutes? Ja. Hinter dem Rücken der Hochschulpolitik zeitigt die Malaise bemerkenswerte Europäisierungseffekte: Trotz politisch erzwungener Drängelei um knappe Studienplätze gibt es kaum Ressentiments unter den Studierenden. Hier zeichnet sich ein europäisches Wir-Bewusstsein ab, dem nationale Herkunft unwichtig wird.

Langfristig werden die Länder, die Studierende anziehen, Vorteile haben. Und es entsteht eine Generation hoch Gebildeter mit einem soliden Bewusstsein der Hilflosigkeit nationalstaatlicher Politik.

Was aber kann man kurz- und mittelfristig tun? Die schwachen Ansätze transnationaler Organisation von Universitätsinteressen müssen zur nachholenden institutionellen Europäisierung der Hochschulen genützt werden. Ich denke dabei ebenso an die europäische Rektorenkonferenz wie an europäische wissenschaftliche Fachgesellschaften. Denn die gegenwärtigen Probleme haben im Kern ihre Ursache in der defizitären Institutionalisierung des europäischen Hochschulraumes. Das ist - wie in anderen Politikfeldern auch - nur auf transnationaler Ebene machbar.

Und wenn auf der Ebene der Gesamt-EU nichts weitergeht, dann muss sich eben eine Avantgardegruppe bilden. Auch das ist nicht anders als in anderen Politikfeldern. Vielleicht kann man die im Vertrag von Lissabon vorgesehenen Möglichkeiten einer "verstärkten Zusammenarbeit" hochschulpolitisch nutzen. Kaum sonst wo ist eine abgestufte Integration so leicht und mit so wenig politischen Kosten realisierbar wie in der Hochschulpolitik (siehe Sprachgrenzen). Jedenfalls gilt für die Hochschulen wie für alle anderen Politikfelder auch: Erst nationale Souveränitätsverzichte machen eine souveräne Politik möglich. (Georg Vobruba, DER STANDARD, Printausgabe, 4.10.2011)