Irmgard Schiller-Frühwirth (links im Bild, 54) ist Allgemeinmedizinerin und Fachärztin für Pulmologie. Sie arbeitet im Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger in der Abteilung für evidenzbasierte wirtschaftliche Gesundheitsversorgung. Sie hat einen Master in Public Health.

Sylvia Groth (rechts im Bild, 55) ist Medizinsoziologin und leitet seit 1995 das Frauengesundheitszentrum in Graz. Dort wird Wissen zu Frauengesundheit in Beratungen, Kursen und Veranstaltungen an Laien weitergegeben.

Foto: Standard/Matthias Cremer

Frauengesundheitsexpertin Sylvia Groth kritisiert den derzeitigen Entwurf zum geplanten Brustkrebsscreening in Österreich. Irmgard Schiller-Frühwirth vom Hauptverband stellt Vorgänge im Vorfeld dazu klar. Karin Pollack moderierte die Diskussion.

Standard: Wann empfehlen Sie Frauen eine Mammografie?

Schiller-Frühwirth:Abhängig vom Risikoprofil. Wenn eine Frau Brustkrebs in der Familie hatte, ist ihr Risiko größer, auch das Alter ist entscheidend, je älter, umso häufiger kommt es zur Diagnose Brustkrebs. Das sind Kriterien für eine Mammografie.

Groth: Bei der Entscheidung für oder gegen ein Mammografiescreening ist umfassende Information eigentlich das Wichtigste. Es gibt sowohl einen möglichen Nutzen als auch einen Schaden. Das muss eine Frau gegeneinander abwägen. Wir legen bei der Beratung im Frauengesundheitszentrum in Graz die Fakten auf den Tisch, sagen aber auch, dass es zur Früherkennung mittels Mammografie auch innerhalb der Medizin strittige Auffassungen gibt. Ich erkläre den Frauen die Risikoangaben in verständlichen Worten und unterstütze sie, ihre Entscheidung zu finden.

Standard: Derzeit laufen Vorbereitungen für ein Brustkrebsscreening, also eine Maßnahme, die alle Frauen ab dem 45. Lebensjahr zur Mammografie einlädt. Warum werden entgegen EU-Vorgaben Frauen nicht erst ab 50, sondern schon ab 45 eingeladen?

Schiller-Frühwirth: Den statistischen Hintergrund für ein organisiertes Screening zu verstehen ist extrem schwierig. Das Ziel aber ist klar: Durch Früherkennung soll Brustkrebs möglichst im Frühstadium entdeckt werden. Je früher Brustkrebs entdeckt wird, umso größer sind die Heilungschancen und umso schonender ist die Behandlung für die Frau. Wenn man so ein Programm aufsetzt, ist man mit einer Vielzahl von Studien konfrontiert, die die Effektivität in unterschiedlichen Altersklassen gemessen haben. Zentral war für den Hauptverband die Preventive Service Task Force, ein systematischer Review aus dem Jahr 2009.

Groth: Weil es unterschiedliche Ergebnisse von Studien gibt, ist die Zusammenschau mehrerer Studien wie der eben erwähnte Review so wichtig. Bisher haben die wissenschaftlich ernstzunehmenden Reviews ergeben, dass die Schaden-Nutzen-Bilanz bei über 50-Jährigen am günstigsten ist.

Standard: Was heißt das konkret?

Schiller-Frühwirth: Bei einem organisierten Brustkrebsscreening werden gesunde Frauen untersucht. Wir wissen: In der Altersgruppe der 40- bis 49-Jährigen tritt Brustkrebs im Vergleich zu jener zwischen 60 und 69 Jahren vergleichsweise selten auf. Am besten lässt sich das an Zahlen veranschaulichen: Zwischen 40 und 49 Jahren ist die relative Risikoreduktion 15 Prozent. Das heißt: 1900 Frauen müssen alle zwei Jahre eingeladen werden, damit ein Brustkrebstod in elf Jahren verhindert wird. In der Altersgruppe der 50- bis 59-Jährigen sind es 1339 Frauen (relatives Risiko 19 Prozent), um einen Brustkrebstod in elf Jahren zu verhindern. Bei den 60- bis 69-Jährigen (32 Prozent Risikoreduktion) sind es 377, die einen Brustkrebstod verhindern. Diese Zahlen zeigen ganz deutlich, wo das Programmscreening am effektivsten ist.

Groth: Ganz zentral ist aber auch die Botschaft, dass es in Programm-screenings viele falsch-positive Befunde gibt. Das genau nenne ich den Schaden. So kann eine Frau nach einer Mammografie erfahren, dass das Bild eine Auffälligkeit zeigt. Viele Frauen denken, dass dies ein Befund ist, nämlich Krebs bedeutet, und bekommen Angst. Auch die Abklärung, die erfolgt, kann Angst machen.

Standard:Wie häufig sind falsch-positive Befunde?

Groth: Auch das ist altersabhängig. In der Gruppe der 40- bis 49-Jährigen sind von 20.000 Mammografien 2000 falsch-positiv, bei den 60- bis 69-Jährigen von 5000 insgesamt 400. Anders gesagt: Unter besten Qualitätsbedingungen erweisen sich bei untersuchten gesunden Frauen von zehn auffälligen Mammografien neun dann nach der Abklärung nicht als Brustkrebs.

Schiller-Frühwirth: Screening und seine Effektivität sind eines der schwierigsten Themen der Medizin. Da gab es Stimmen von Seiten der Ärzte, die klar sagten, dass die ab dem 45. Lebensjahr entdeckten Brustkrebsfälle deutlich ansteigen.

Groth: Ich denke, ein Problem stellt auch die Umsetzung dar. Die eine Frage ist: Wie viele Todesfälle können durch Screening verhindert werden? Dazu gibt es wissenschaftliche Erkenntnisse. Die zweite Frage ist:Wie setze ich ein Programm auf nationaler Ebene um, das mir die bestmöglichen Ergebnisse sichert? Österreich ist eines von vier EU-Ländern, das noch kein Brustkrebs-Programmscreening hat, unter anderem weil das Tauziehen zwischen verschiedenen Interessengruppen schon seit acht Jahren andauert.

Standard: Entgegen evidenzbasierten Daten?

Groth:Ärzte verstehen Statistik und das, was sich daraus ableiten lässt, ja oft nicht. Das hat eine Studie von Gerd Gigerenzer ergeben. 60 Prozent aller Gynäkologen sagen auf die Frage "Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass bei einer positiven Mammografie Brustkrebs vorliegt?" "90 Prozent" . Tatsächlich sind es nur zehn Prozent. Sie wissen also selbst nicht, dass unter besten Bedingungen in einem Screening von zehn positiven Ergebnissen neun falsch-positiv sind. Wir brauchen deshalb gar nicht davon zu sprechen, dass Wissen in der Bevölkerung fehlt, wenn es oft nicht einmal Experten besitzen. Weil das Unwissen so groß ist, ist Qualitätssicherung so entscheidend. Hier wurden im Vorfeld meiner Meinung nach unglaubliche Zugeständnisse an die Radiologen gemacht.

Standard: Was genau ist passiert?

Schiller-Frühwirth: Ursprünglich waren bilaterale Verhandlungen mit den Radiologen ja gar nicht geplant. Der Hauptverband wollte sich an evidenzbasierten Daten orientieren. Doch dann gab es den Wunsch vom Bundesminister, mit den Radiologen zu verhandeln. Der Hintergrund: Brustkrebsscreening wird in Österreich nicht zentral, sondern dezentral organisiert, das heißt: Wir brauchen die Radiologen und sind auf ihre Mitarbeit angewiesen. Es war eine realpolitische Entscheidung und keinesfalls der Wunsch des Hauptverbands.

Standard: Wie wurden Entscheidungen dort gefällt?

Groth: Ich war bei der zweiten Expertensitzung zur Vorbereitung der Einführung von Programmscreenings dabei. Nachdem die Radiologen in der ersten Sitzung trotz Einladung fehlten, kamen sie zur zweiten in großer Zahl und dominierten. Am nächsten Tag verkündeten die Printmedien, dass eine Einigung erfolgt sei, die ich in der Sitzung aber nicht erlebt habe.

Schiller-Frühwirth: De facto sieht es so aus: Wir haben Zugeständnisse beim Alter und bei der Ultraschalluntersuchung gemacht.

Groth: Ich kann diese Entscheidungen nicht nachvollziehen. Es geht doch darum, den Frauen in Österreich eine Maßnahme anzubieten, von der sie und nicht die Radiologen profitieren. Der Hauptverband hat eine Verantwortung den Versicherten gegenüber, und wissenschaftliche Ergebnisse sind eine gute, weil objektive Grundlage für gesundheitspolitische Entscheidungen. Der Hauptverband kennt die Fakten, hat sich aber durch eine Fachgruppe von Radiologen von bereits verhandelten und in der Bundesgesundheitskommission beschlossenen Zielen abbringen lassen. Das Interesse der Radiologen ist mir nachvollziehbar. Mammografien machen etwa ein Viertel ihres Einkommens aus. Wenn Frauen schon ab 45 eingeladen werden, sind das zigtausende Untersuchungen mehr, die abgerechnet werden können.

Standard: Es gibt auch Kritik an der Qualitätssicherung ...

Groth: Dazu gibt es eine ganz Reihe von Kritikpunkten: Noch immer wird in Österreich über feststehende Qualitätskriterien diskutiert - wie etwa die Anzahl der Befundungen pro Jahr, die ein Radiologe machen muss; die technische Grundausrüstung; die Notwendigkeit der Fort- und Weiterbildung und einiges mehr. Das alles sind nicht willkürliche Maßnahmen, sondern soll die Zahl der falsch-positiven Befunde so gering wie möglich halten. Die derzeitige Fassung der Qualitätsstandards nach der Einigung mit dem Hauptverband und Radiologen weicht in mindestens 28 Punkten von den EC-Vorgaben ab und gefährdet den Erfolg des Programms auf lange Sicht.

Schiller-Frühwirth: Vieles davon ist im derzeitigen Entwurf einfach noch nicht eingearbeitet.

Groth: Noch ist der jetzige Entwurf ja auch nicht entschieden, der Bundesminister hat noch alle Möglichkeiten, hier im Sinne der Frauengesundheit einzugreifen, zum Beispiel eine Bundesqualitätstrichtlinie zu verordnen.

Schiller-Frühwirth: Eines ist an diesem Punkt aber wichtig zu betonen: Heute ist es so, dass wir über die Qualität radiologischer Leistungen gar nichts wissen. Wir haben in Österreich derzeit das sogenannte opportunistische Screening, das heißt: Jede Frau kann auf eigenen Wunsch oder auf Anraten ihres Arztes eine Mammografie durchführen lassen. Was dabei herauskommt, entzieht sich unserer Kenntnis. Wir haben in Österreich kein System, um Qualität messen zu können. Genau das ist auch die ganz große Chance eines organisierten Brustkrebsscreenings. Ich sage sogar, dass hier ein richtiger Paradigmenwechsel stattfindet. Wir werden Daten sammeln, auswerten und auf dieser Basis dann weiterführende Entscheidungen treffen können.

Standard: Worin besteht der Paradigmenwechsel genau?

Schiller-Frühwirth: Dass wir Qualität erfassen können und erstmals Transparenz schaffen. Denn auch das Brustkrebsscreening-Programm wird sich in Österreich erst einmal bewähren müssen.

Standard: Wird es denn auch eine Auswertung für die Qualität der Befundung jedes einzelnen Radiologen geben?

Schiller-Frühwirth: Ja, wir werden nach bestimmten Parametern evaluieren und, wenn die Qualität nicht stimmt, eine Reihe von Maßnahmen setzen.

Groth: Was, wenn die Ärzte ihre Dokumentationsbögen nicht ausfüllen, wie es in der "Vorsorge neu" geschieht? Sind Sanktionen für fehlende Dokumentation vorgesehen?

Schiller-Frühwirth: Leistung wird nur dann bezahlt werden, wenn auch Dokumentation erfolgt. Sanktionen sind ebenfalls geplant. Das alles kann für den einzelnen Radiologen ja positive Effekte haben. Denn vielleicht ist es ja so, dass ein Radiologe, der vergleichsweise wenig befundet, trotzdem eine hohe Treffsicherheit hat und ein Radiologe mit vielen Befundungen schlechte Ergebnisse erzielt. Und eines muss ich auch sagen: Die EU-Vorgabe, dass ein Radiologe 5000 Befundungen pro Jahr machen muss, ist auch nicht evidenzbasiert.

Standard: Im jetzigen Entwurf ist bei einer bestimmten Brustdichte eine Ultraschalluntersuchung dabei. Ein Kompromiss?

Groth: Mich wundert das, denn der Bundesminister hat an der Donau-Uni Krems eine Studie in Auftrag gegeben, die die Evidenz für dieses Vorgehen basiert ermittelt. Ist Ultraschall in Zusammenhang mit Mammografie im Screening bei der Früherkennung von Brustkrebs tatsächlich effektiv? Die Ergebnisse liegen vor. International gibt es keine Nachweise, dass Ultraschalluntersuchungen hier zielführend sind.

Standard: Wie werden Frauen informiert werden?

Schiller-Frühwirth: Einstweilen sind wir noch nicht so weit, aber ich denke, wir werden uns genau an die Vorgaben der EU halten.

Groth: Die EU-Leitlinien machen hierzu wirklich detaillierte Vorgaben - bis zu den Formulierungen, die verwendet werden sollen. Nutzen und Schaden müssen in allen Materialien eindeutig genannt werden. Für jeden Schritt der Diagnostik muss es eine begleitende Information geben. Sie muss in verschiedenen Sprachen abgefasst sein. Schriftliche, aber auch eine mündliche Information für bildungsferne Frauen ist wichtig. Information zumScreening muss ehrlich, zutreffend, umfassend, nicht beeinflussend und evidenzbasiert sein. Das alles wäre für Österreich ganz neu und wichtig für die Frauen. (Karin Pollack, DER STANDARD Printausgabe, 04.10.2011)