Die Republik hat uns ein neues politisches und mediales Phänomen beschert, den in Würden alt gewordenen "Wutbürger" aller Couleur, schwarz, rot, grün und sogar blau. Auf den ersten Blick nehmen sich die Forderungen gut aus: Stärkung des Parlaments, Reform des feudalen Föderalismus, partizipative Demokratie, Einführung eines moderaten Persönlichkeitswahlrechts. Auch der Ekel über die Zumutungen der gegenwärtigen Politik ist nachvollziehbar. Nicht zu übersehen ist jedoch, dass die von den Proponenten des "Demokratiebegehrens" formulierten Ziele nicht immer gut miteinander harmonieren: Die Weiterentwicklung der repräsentativen Demokratie und die Stärkung des Parlaments stehen in krassem Gegensatz zu jener Idee der direkten Demokratie, mittels derer das Parteien-System und sein Establishment ausgehebelt werden soll. Und sie steht auch im Widerspruch zur weit verbreiteten Sehnsucht nach charismatischer Politik.

Was aber vor allem irritiert, ist der gänzlich ironiefreie Sprachgestus der selbst ernannten Retter der österreichischen Demokratie: Das Vaterland ist in Gefahr und in dieser Notlage müssen die Silberfüchse oder die Bauern, die eigentlich schon im Ausgedinge sind, die Mistgabeln in die Hand nehmen und aufstehen, weil es sonst niemand tut - weder die amtierenden Politiker noch die Jugend. Diese Erzählung ist unfreiwillig komisch, schon allein deshalb, weil viele dieser Proponentinnen und Proponenten ranghohe Vertreter von Politik und Medien waren - etwa eine stellvertretende Chefredakteurin, zwei Vizekanzler, ein Europaparlamentarier, ein ehemaliger ORF-Intendant ein Landeshauptmannstellvertreter ... - und so viel hochrangiger Unmut natürlich die Frage nahelegt, wie denn die Unmutigen für die Ziele, die sie jetzt in der Rente beschwören, in ihrer aktiven Zeit gekämpft haben.

In diesem inszenierten Zorn ist eine Erinnerung eingelagert, die angesichts von Wirtschaftskrisen und politischen Skandalen plausibel erscheinen mag, die aber historisch geschönt ist. Lassen wir einmal die ersten beiden Jahrzehnte der österreichischen Nachkriegsdemokratie und ihre post-nationalsozialistische Enge beiseite, so ist selbst die heute in rosarotes Licht getauchte Kreisky-Ära voll von Lächerlichkeiten und Skandalen, von der Lucona-Affäre bis zu gigantischen illegalen Waffenexporten, an deren Ende der Suizid des verantwortlichen Ministers stand.

Glaubhafter ist, dass die österreichische Demokratie nach 1945 nur sehr langsam von einem rein formalen Gehäuse zu einer innerlichen Befindlichkeit vorangeschritten ist, verhaltener vielleicht als in anderen westlichen Demokratien der Nachkriegszeit. Zu dieser Behaglichkeit beigetragen haben sowohl die vielen Jahre der Großen Koalitionen und das lange Zeit fast risikolose Ressentiment der Bürger gegen sie. Ganz offenkundig hat sich die österreichische Gesellschaft, nicht zuletzt dank der Dynamik von Generationskonflikten, seit den 1970er Jahren geöffnet, sie ist vergleichsweise weniger hierarchisch und patriarchal als noch in der Kreisky-Ära, sie ist partiell aufmüpfiger, individualistischer und weniger brav. Zu nennen sind hier politische Phänomene wie Feminismus, Ökologie, der kritische Umgang mit der Vergangenheit, der Beitritt zur EU.

Merkwürdig daran ist nur , dass all diese gesellschaftlichen Veränderungen nicht auf die Ebene der Politik durchgeschlagen haben. Aber ich denke, das gilt für die meisten der nach 1945 entstandenen europäischen Wohlstandsdemokratien.

Es besteht kein Grund, die Regierung Faymann demokratiepolitisch zu verteidigen. Ganz im Gegenteil. Sie ähnelt in der Tat mehr dem österreichischen Fußballteam als unseren "Adlern" im Skispringen. Aber die Mittelmäßigkeit, die ihr attestiert wird, weicht nicht von jener vieler anderer österreichischer Regierungen zuvor ab - ich denke an Bundeskanzler wie Klima oder den ehrenwerten, aber hilflosen Fred Sinowatz, an aberwitzig inkompetente FPÖ-Minister in den Kabinetten Kreisky und Schüssel. Dass Faymanns Null-Charisma stärker wahrgenommen wird als das seines Pendants aus den 1990er-Jahren, Viktor Klima, liegt nicht zuletzt daran, dass unsere politischen Ansprüche offenkundig gestiegen sind: Gulasch mit Saft ist in der politischen Kulinarik unserer Tage heute zu wenig.

Womit wir auch bei den Skandalen der letzten Wochen wären, die die Diagnose vom politisch elenden Zustand unserer Demokratie untermauern sollen - wozu die Rhetorik vorgeblicher "Aufdecker" -Medien nicht unwesentlich beiträgt. Denn dass all diese politischen Verfehlungen mit der der Austropolitik eigenen Verzögerung - wahrscheinlich - an den Tag kommen, beinhaltet doch die gute Botschaft, dass unsere Demokratie funktioniert.

Im Vergleich zu den hehren Idealen der Zivilgesellschaften nimmt sich deren Realität stets schäbig aus. Und es mag sarkastisch klingen, dürfte aber schwer widerlegbar sein: Marktkapitalistische, medialisierte Massendemokratien erzeugen zwangsweise ein Biotop für jene Korruption, die die Demokratie - in England wie hierzulande - wiederum aufdeckt. In ihrer Tendenz hin zum Durchschnitt und zum Kompromiss erzeugen sie fast zwangsläufig politisches Mittelmaß. Die Zahl der wirklich charismatischen Politiker ist nicht nur in Österreich äußerst gering. Medienmacht und Umfragen, die heute zum Alltag gehören wie der Wetterbericht, haben dazu geführt, dass nicht nur die Gesinnungsethiker, sondern auch die Verantwortungsethiker im Schwinden begriffen sind. Aber das scheint der Logik moderner demokratischer Regime - ob es einem gefällt oder nicht - inhärent zu sein. Und nicht einmal das Charisma bietet, wie der Fall Obamas lehrt, die Gewähr dafür, dass sich die Demokratie erneuert, indem sie sich ausweitet.

Die "Wutbürger", die doch politisch sehr zweischneidig einzustufen sind, werden heute medial hofiert. Ich kann mich an ein Symposion an einer renommierten Schauspielschule zum Thema "Zorn" erinnern, bei dem ich mit meiner Angst vor Zorn, dem eigenen wie dem der anderen, ziemlich alleine blieb. Ich finde, dass die ästhetische und politische Kreativkraft von Wut und Zorn überschätzt wird. Die Wut macht blind für sich selbst und die Umgebung, sie ist sehr bequem und sie trübt den Lernprozess wie die Reflexion. Gelassene Unzufriedenheit ist da schon besser.

Politik, zumal demokratische, unterliegt zwei zentralen Parametern, der Ökonomie und - im weiten Sinn des Wortes - der Kultur. Die politische Öffnung unseres in der Tat antiquierten politischen Systems kann nur dann erfolgreich sein, wenn sie von ökonomischer Sicherheit und von einer Veränderung eben von Lebenskulturen getragen wird. Silberfüchse können dabei eine Rolle spielen, aber der entscheidende Impuls muss von der jungen Generation kommen. Mögen deren Vorstellungen von digitaler Demokratie heute auch etwas blauäugig sein, sie haben das Vorrecht, diesen kulturellen Wandel voranzutreiben, der im günstigsten Fall auch die politischen Verhältnisse zum Tanzen bringt.

Angesichts der massiven Schuldenkrise, die zu Lasten der jungen Generation und der noch ungeborenen geht, ist es unwahrscheinlich, dass der Umbau des politischen Systems heute Priorität erlangt. Die ökonomische Krise unserer Tage ist für das Überleben der Demokratie in Europa viel gravierender als jenes gouvernementale Mittelmaß, das wohl eines ihrer Grundübel ist, aber durch geliehenen Sachverstand neutralisiert werden kann. (Wolfgang Müller-Funk, DER STANDARD, Printausgabe, 1./2.10.2011)