"Die Welt ist alles, was der Fall ist." So lautet der berühmte Satz 1 von Wittgensteins Tractatus. "Alles was der Fall ist", nach des Lektors unerschöpflichem Ratschluss ohne Beistrich, heißt Peter Clars zweites Buch, das der Autor ebenso bescheiden wie zutreffend nicht Roman nennt, obwohl es so etwas wie den Prototyp der Gattung darstellt. Ein Fall ist das Fleisch des Krimis, ein Fall - nämlich vom Kirchturm - ist hier auch der Ursprung des Falls: War es Selbstmord? Oder Mord?
Wenn ein Erzähler seine Figuren X (der "Ermittler") und Y (der Tote) tauft, dann ist von ihm kaum Saft und Würze nach Krimiart zu erwarten. Clar pflegt vielmehr eine gleichsam dehydrierte, ausgedörrte Ästhetik und erzeugt mithilfe von Ellipsen und einer sacht verdrehten Syntax einen eigenwillig treibenden Rhythmus.
Mit Wittgenstein verbindet den Autor die Vorliebe fürs Systematische und Kategorische: "Zeit steht nicht." Und das Fragen nach dem Wesen des Wirklichen: "Zeihen Sie diesen Krimi ruhig der Langeweile, anerkennen Sie aber bitte auch, dass er dafür wirklich ist. Dass er real ist dafür. Dass er das Leben abbildet und Wetterlagen und Flüsse und Berge und Caspar David Friedrich und so."
Ähnlich wie Thomas Raab (nicht der Krimi-Raab!) in seinem brillanten Roman Verhalten (2002) reduziert Clar das reale Fallgeschehen zum Schema - um dieses kurzerhand zur Realität zu erklären. Immerhin gibt es eine richtige Leiche und einen echten Schauplatz, Villach, die "Stadt des Faschings" an der Drau, die fließt, weil bekanntlich alles fließt. Alle anderen Krimi-Ingredienzen scheinen eher willkürlich zusammengerührt: die rätselhafte Frau namens F, das Tagebuch des Toten, der Revolver, der Gewährsmann bei der Polizei, der offen daliegende Akt (der in Österreich genauso männlich ist wie die papierene nackte Frau!). Die Lösung ist eine philosophische.
In der Tat widmet Clar sich vor allem dem dekonstruktivistischen Spiel, das eine Beschwörung literarischer Gespenster ist. Ingeborg Bachmann darf inkognito "Es war Mord" flüstern, Josef Winklers Kälberstrick baumelt ins Bild, und über allem thront als wehrhafte Schutzmantelmadonna Elfriede Jelinek, deren Sound Clar von der frechen Leser-Anrede bis zur Kalauer-Ausbeutung ungeniert imitiert, ja, parodiert: "Kippen Sie kopfüber in diese Geschichte, die eine wahre ist, so wahr Gott mir helfe, wie alles Ware ist". Manch politische Seitenhiebe nach Jelinek'scher Manier treffen mit Witz das Land der Nordslowenen, indes die Beschimpfung des Papstes als Nazi nicht die feinste Klinge verrät. Nehmen Sie mich beim Wort hieß Clars Debut, "Nehmen Sie mich bloß nicht beim Wort", sagt sein Ich jetzt.
Die Crux dieses klugen und kunstfertigen Textes mag kalkuliert sein: Die ewige Spiegelfechterei hat etwas Ermüdendes. So freut man sich an dem, was an Erzählung dem Autor offenbar passiert ist, am Lokalkolorit und an der schönen Sprödigkeit der doch recht fleischlichen Balkonszenen zwischen X und F. Da, wünscht man sich, möge er weitertun, die große Elfi Elektra wird's ihm nicht verdenken. (Daniela Striegl, DER STANDARD/ALBUM - Printausgabe, 1./2. Oktober 2011)