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Eva Blimlinger: "Wenn es um Sozial- und Alltagsgeschichte geht, beginnt meine Lieblingszeit schon 1848."

Foto: APA/Herbert Neubauer

Die neue Rektorin der Akademie der bildenden Künste, Eva Blimlinger, urgiert Konzepte für den Bildungssektor. Was das Uneindeutige an den Österreichern ist, das Drama mit ihren Revolutionen und warum sie ihr Rezept für Vanillekipferl nicht verrät, erfragte Renate Graber.

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STANDARD: Sie packen gerade für Ihre Übersiedlung ins Rektorat der Akademie der Bildenden Künste, nach fast 20 Jahren an der Angewandten. Sentimental?

Blimlinger: Ja, beim Abschied ist schon ein weinendes Auge dabei.

STANDARD: Ich hatte damit gerechnet, dass Sie sagen, Sentimentalitäten seien nicht Ihres.

Blimlinger: In dem Fall schon. Noch schlimmer war es bei der Historikerkommission 2004. Die habe ich nach sechs Jahren Koordinationsleitung abgewickelt, das Büro besenrein gemacht: Die Arbeit war zu Ende. Da habe ich das Licht abgedreht.

STANDARD: War doch erstaunlich, dass die Zweite Republik die Aufarbeitung der NS-Zeit durch die Historikerkommission ausgerechnet unter Schwarz-Blau erledigte.

Blimlinger: Eingesetzt wurde die Kommission schon von Viktor Klima unter Rot-Schwarz. Aber die Entschädigung der Zwangsarbeiter und den Entschädigungsfonds für Opfer des Nationalsozialismus hätte es ohne Schwarz-Blau nie gegeben. Wobei man dazu sagen muss: Wie immer in der Zweiten Republik hat das nur funktioniert, weil man der FPÖ Zugeständnisse gemacht hat.

STANDARD: Etwa durch die Entschädigung für "Trümmerfrauen" ...

Blimlinger: ... oder für Spätkriegsheimkehrer, die es schon 1958 einmal gab. Diese Gegengeschäfte hat es seit 1947 immer gegeben.

STANDARD: Weil sich Österreich als Opfer des Nationalsozialismus sah?

Blimlinger: Es ging darum, die gesamte Gesellschaft zu viktimisieren. Jeder muss sich persönlich als Opfer fühlen: So konnte man die Staatsthese des Opferseins inkorporieren. Mein Lieblingsgesetz ist das Kriegs- und Verfolgungssachschädengesetz, das sich an Opfer des Austrofaschismus 1933 bis 1938 und des Zweiten Weltkriegs und auch des Nationalsozialismus wendet. Da gab es Tabellen für kaputte Stockerl und so sonstiges Inventar. Egal wer: Jeder Geschädigte bekam eine bestimmte Summe ausbezahlt. Alles, damit man ja nicht klarstellt, wer die tatsächlichen Opfer waren. Nach den Trümmerfrauen, die nur entschädigt wurden, wenn sie auch Mütter waren, war dann niemand mehr da zum Entschädigen.

STANDARD: Ihr Großvater, Josef Gerö, war oberster Staatsanwalt, Chefankläger im Prozess gegen den Dollfuß-Mörder, im KZ, wurde 1945 parteifreier Justizminister. Interessiert sie die Zeit ab 1934 aus familiären Gründen so sehr?

Blimlinger: Er hatte wirklich eine schillernde Biografie, darin hat sich das Österreichische in allen Facetten abgebildet. Er war jüdisch, ließ sich evangelisch taufen, war 1933 bis '38 in der Vaterländischen Front, hat im Austrofaschismus die politische Abteilung im Justizministerium geleitet. Sprich: Er hat auch die Sozialistenprozesse geführt. Mit dem ersten Transport kam er nach Dachau. Aus dem KZ kam er 1939 laut Familiengeschichte auf Intervention eines italienischen Fußballfunktionärs, das konnte ich aber bis heute nicht verifizieren. Dann wurde er als einer der wenigen von der NS-Zeit nicht belasteten Juristen Minister. Unsere Familie ist eine evangelisch, katholisch, jüdische Mischkulanz.

STANDARD: Sehr österreichisch halt.

Blimlinger: Ja, sehr österreichisch, sehr uneindeutig.

STANDARD: Sind die Österreicher uneindeutig?

Blimlinger: Ja, in dieser Mischkulanz schon.

STANDARD: Sie sind berüchtigt für eindeutige Direktheit, werden Sie die als Rektorin behalten?

Blimlinger: Ja. Weil ich nicht anders sein kann. Aber noch zu meinen historischen Vorlieben: Wenn es um Sozial- und Alltagsgeschichte geht, beginnt meine Lieblingszeit schon 1848.

STANDARD: Wobei die 48er-Revolution hat es bei uns ja fast nicht gegeben. Das Bedeutendste, das in Wien davon geblieben ist, ist der Achtundvierzigerplatz in Penzing.

Blimlinger: Ja, das mit den Revolutionen ist halt in Österreich ein bisserl ein Drama.

STANDARD: Regisseur David Schalko hat jüngst das Wort "Sitzer" geprägt, passt irgendwie zu Österreich, oder?

Blimlinger: Nicht unbedingt. Denn dann wäre der 12. März 1938 am Heldenplatz nicht möglich gewesen. Mich nimmt es wunder, bei welchen Gelegenheiten die Österreicher in den letzten 150 Jahren aufgestanden sind, und bei welchen nicht.

STANDARD: Was fällt Ihnen beim Aufstehen ein?

Blimlinger: Als Karl Schranz 1972 nicht bei den Olympischen Spielen in Sapporo mitfahren durfte: Da hatten wir wieder ein Opfer. Es ist halt heute noch so: Die Österreicher sind immer noch vom Josephinismus geprägt, diesem Staatsverständnis, in dem Innovationen und Änderungen immer von oben, vom Staat kommen.

STANDARD: Das muss Ihnen ja gefallen, Sie gelten als „perfekte Beamtin" im Sinne des Staatsrechtlers Hans Kelsen und des Verwaltungsgerichtshof-Präsidenten ...

Blimlinger: ... Clemens Jabloner, mit dem ich nicht zuletzt deswegen in der Historikerkommission so gut gearbeitet habe. Ich bin Etatistin: Der demokratisch verfasste Staat hat eine zentrale Funktion. Und es mag arrogant klingen, aber: Der Staat soll durch die besten Leute vertreten werden.

STANDARD: Sie haben zudem den Ruf, besonders sparsam zu sein. Bei der Historikerkommission ist Ihnen von Ihrem Budget von 87 Mio. Schilling (rund 6,3 Mio. Euro) sogar etwas übrig geblieben, Sie haben jede Rechnung geprüft. Liegt das daran, dass Sie im wirtschaftskundlichen Gymnasium gelernt haben, dreigängige Menüs aus Zutaten um 20 Schilling (rund 1,40 Euro) zu kochen?

Blimlinger: Eher nicht. Berufliche Sparsamkeit ist mir ein Anliegen, weil es um Steuergeld geht. Und dieses Steuergeld ist, da bin ich ganz Beamtin, sparsam und zweckmäßig einzusetzen. So hat das zu sein, und das werde ich auch als Rektorin so halten.

STANDARD: Jabloner liebt ja die Oper, geht notfalls auch auf Stehplatz, Sie sind Film-Fan. Sicher mögen Sie historische Schinken.

Blimlinger: Ich mag alles, querbeet: Hollywood, Jim Jarmusch - und Sissy-Filme kann ich praktisch auswendig.

STANDARD: Der schwerhörige, alte Erzherzog: „Was hat er gsagt"?

Blimlinger: Ja, oder (macht eine große Geste und näselt) Graf Andrassy. Aber Kinofilme muss man im Kino sehen, manche gehören verboten im Fernsehen, Bertoluccis 1900 etwa oder Vom Winde verweht. Das geht im Fernsehen gar nicht, das zerstört das Kunstwerk.

STANDARD: Ihre künstlerische Ader?

Blimlinger: Ich schreibe gern, habe Lust an kreativer Formulierung. Ich habe ja Germanistik studiert - obwohl mich meine Deutsch-Professorin gewarnt hatte, dass man beim Germanistik-Studium die Lust an der Literatur verliert. Das war bei mir zum Glück nicht der Fall.

STANDARD: Sie lesen gern den Wiener Heinrich Steinfest mit seinem schrägen Detektiv und dem kranken Dackel...

Blimlinger: Ja, es gibt grad einen neuen Steinfest.

STANDARD: In "Insel der Seligen" befasst er sich mit Österreich und auch mit Fußball. Fußball ist traurig, schreibt er. Was sagt Rapid-Fan Blimlinger dazu? Ihr Großvater war ja auch Präsident des Fußballbunds, und Sie haben sich mit Fußballgeschichte beschäftigt.

Blimlinger: Fußball ist nicht generell traurig. Aber österreichischer Fußball ist traurig. Bei uns daheim war Sport wichtig. Fernsehen war verboten, aber für die Olympischen Spiele - mein Großvater war auch im Österreichischen Olympischen Komitee - haben unsere Eltern einen Fernsehapparat ausgeborgt. Bei den Spielen in München haben mein Bruder und ich uns alles angeschaut und penibel Buch geführt; wir wissen heute noch, wer welche Goldmedaillen gewonnen hat.

STANDARD: Ihre Lust am Formulieren merkt man an den Titeln Ihrer Publikationen. Mir gefällt am besten der über den Zeitdruck von Historikern: "Das könnt ihr nicht verlangen, das geht sich nicht aus. Wahnsinn!" Ich sag' das jeden Tag. Ihre Freunde halten Sie übrigens für eine Patisserie-Künstlerin. Sie beginnen acht Wochen vor Weihnachten für Freunde und Verwandte zu backen...
Blimlinger: ...sechs Wochen.

STANDARD: Ihre Vanille-Kipferl sind berühmt, würden Sie ...

Blimlinger: (lacht) Nein, ich gebe Ihnen das Rezept nicht. Ich habe vier Jahre experimentiert, bevor ich es zusammen hatte.

STANDARD: Die Vanillekipferl sind dann also Ihre Kunstwerke?

Blimlinger: Ein Vanillekipferl ist kein Kunstwerk.

STANDARD: Ein Vanillekipferl ist schon ein Kunstwerk. Als Wienerin könnten Sie das schon zugeben.

Blimlinger: (lacht) Das mit dem Kochen als Kunst halte ich für einen Trend, wiewohl es Köchinnen und Köche gibt, die Künstler sind. Mich nervt, dass manche glauben, wenn sie drei Versatzstücke haben, können sie alles. Das lässt sich generell auf die Kunst übertragen: Bestimmte Dinge muss man lernen, als Künstler.

STANDARD: Dumme Frage: Wann ist man Künstler?

Blimlinger: So eine Frage beantworte ich nicht.

STANDARD: Zu dumm?

Blimlinger: Was Kunst ist, was ein Künstler ist - das ist sehr offen und beweglich. Eine Definition engt zu sehr ein.

STANDARD: Sie sammeln Kunst - und erstaunlicherweise Petit-Point-Arbeiten.

Blimlinger: Stimmt, von Taschen über Parfum-Flacons bis hin zu Möbeln, wie den Schemel, den Sie da drüben sehen.

STANDARD: Wie sind Sie ausgerechnet auf Petit Point gekommen?

Blimlinger: Beim Lesen eines Frauen-Magazins ist mir ein Bild mit einer Petit-Point-Tasche aufgefallen, und ich erinnerte mich plötzlich, dass meine Mutter, die gestorben ist als ich 15 war, so eine Tasche hatte. Da habe ich begonnen, mich dafür zu interessieren.

STANDARD: Zu Ihrem Geburtstag haben Sie Flip-Flops mit Petit-Point-Spangen drauf bekommen. Weil Sie fast immer Flip-Flops tragen?

Blimlinger: Die sind einer Grundsatzfrage geschuldet. Ein Freund meint, Flip-Flops seien kein Schuhwerk, sondern nur für den Strand. Ich bin der Meinung, man kann die auch in der Stadt tragen, wenngleich ich sie bei bestimmten Terminen nicht anhabe.

STANDARD: Flip-Flops in der Rektorenkonferenz: Ja oder nein?

Blimlinger: Ja.

STANDARD: Viele sagen, Sie werden bald Rektorenkonferenz-Chefin.

Blimlinger: Step by Step. Jetzt werde ich einmal Rektorin.

STANDARD: Sie sind unbequem, sagten jüngst, es sei "eher unwahrscheinlich, dass ich als Rektorin meinen Mund halten werden". Wie stehen Sie zu Studiengebühren?

Blimlinger: So lange man kein mittelfristiges Konzept für den Bildungssektor macht und Studiengebühren isoliert diskutiert, ist das ein Blödsinn. An der Uni Wien gibt es rund 88.000 Studierende. Wie immer man die aufteilt: Es gibt zu wenig Plätze. Da ist es egal, ob die Sinologie oder Betriebswirtschaft studieren. Die Frage ist: Wie statte ich eine Uni aus, damit die Menschen, die mit der Matura eine Studienberechtigung haben, studieren können. Oder ich sage: Ich will nicht, dass die studieren - aber das traut sich niemand.

STANDARD: Was spricht gegen Zulassungsprüfungen? An Akademie und Angewandter gibt es die.

Blimlinger: Wenn es sie aber überall gibt, muss man fragen: Was ist dann die Matura wert? Ich warte ja nur darauf, wann der Erste sagt: So, jetzt gehen alle in die neue Mittelschule - wer in die Oberstufe gehen will, soll Schulgeld zahlen, denn wir müssen die finanzieren. Die Diskussion läuft so: Wer privilegierte Bildung bekommt, soll zahlen. Nur: Wo fängt das an? Am Klügsten ist es, das übers Steuersystem zu finanzieren.

STANDARD: Sie sind gegen die Einstellung von Studienrichtungen, wie Sie der Rektor der Uni Wien der Politik kürzlich angedroht hat...

Blimlinger: ... weil das den Politikern egal ist, die sind doch froh, wenn das geschieht.

STANDARD: Dafür sagen Sie, die 21 Unis sollen halt einmal die Miete nicht mehr an ihre Vermieterin Bundesimmobiliengesellschaft überweisen. Ein Aufruf zum akademischen Ungehorsam?

Blimlinger: Das war nur ein Beispiel. Ich halte es für wichtig, dass die Universitäten sich endlich zu einem gemeinsamen Vorgehen zusammenfinden.

STANDARD: Wie kaputt sind denn unsere Unis?

Blimlinger: Die richtige Frage ist doch: Warum wollen 3000 Leute Publizistik studieren? Das sollte man herausfinden. Wir wissen, dass der Großteil der Studienentscheidungen über Eltern und Peergroups läuft; wir wissen, dass Frauen trotz vieler Förderungsprogramme noch immer nicht in die Technik gehen. Da müssen wir doch die Strukturen prüfen, die sie davon abhalten. An der TU gibt es eine Studie, wonach die Zustände dort so sind, dass die Frauen es einfach nicht aushalten. Vielleicht macht man halt einmal ein Gender-Training mit den Herren, damit die Stimmung dort besser wird.

STANDARD: Schon die Akademie-Betriebsvereinbarung intus, die 300 Diskriminierungstatbestände nennt?

Blimlinger: So viele sind es nicht. Und das Klima stimmt: An der Akademie haben wir 54 Prozent Studentinnen und 52 Prozent Professorinnen. Und wenn das Klima an der TU passt: Vielleicht wechseln dann ja ein paar von der Publizistik auf die Technik.

STANDARD: Was werden Sie denn Ihren Studenten klima- und stimmungsmäßig bieten?

Blimlinger: Die Studierenden an der Akademie sollen an der Uni einen Safe Space haben: Einen sicheren Ort, wo sie Dinge ausprobieren können, ohne dass alles sofort Konsequenzen hat. Uni ist Lehren, Lernen, Diskutieren, Ausprobieren.

STANDARD: Wieso wollen Sie eigentlich nicht Magnifizenz genannt werden? Klingt doch echt erhaben und wunderschön.

Blimlinger: Sie dürfen von mir aus auch Magnifizenz zu mir sagen. Sie können das aber auch zum Akademie-Portier sagen. Ich kann Ihnen den Hintergrund dazu erklären: Ich wurde vor 20 Jahren Gleichbehandlungsbeauftragte der Rektorenkonferenz, mit mir kam eine Freundin in das Gremium. Damals hat man uns aufgefordert, zu allen 36 Rektoren und Prorektoren Magnifizenz zu sagen. "Na sicher nicht, kommt nicht in Frage", haben wir uns gedacht und haben begonnen zu recherchieren. Und eine Bestimmung gefunden, wonach nur die Rektoren der vier Voll-Universitäten Wien, Salzburg, Innsbruck und Graz das Recht haben, den Titel Magnifizenz zu führen. Also haben wir nicht Magnifizenz gesagt.

STANDARD: "Die Presse" beschrieb Sie so: außen rot, innen grasgrün.

Blimlinger: Weder noch.

STANDARD: Was sind Sie?

Blimlinger: Blimlinger.

STANDARD: Sehr grün können Sie wirklich nicht sein: Sie fahren die kürzeste Strecke mit dem Auto ...

Blimlinger: Und zum Entsetzen des grünen Bezirksvorstehers von Neubau (ihr Bruder; Anm.) finde ich sogar dort Parkplätze.

STANDARD: ... und Sie rauchen wie ein Schlot Smart Export.

Blimlinger: Semper et ubique. (Smart-Logo: Immer und überall; Anm.) Ist gewissermaßen auch ein feministischer Satz.

STANDARD: Feminismus ist?

Blimlinger: Feminismus ist, wenn Frauen die ganze Welt gehört. (lacht)

STANDARD: Worum geht's im Leben?

Blimlinger: Um die Liebe und den Tod. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 1.10.2011)