Kurator der Moskau-Biennale Peter Weibel zeigt Umschreibungsprozesse in der Kunst

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Umschreibung der Welten und der (Kunst-)Märkte: Thomas Feuerstein zeigt in Moskau sein "Manifesto".

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Eigentlich sollte die Landkarte der Schuldnerstaaten Portugal, Spanien, Italien, Griechenland, zusammengefügt aus abertausenden Streichhölzern, abgebrannt sein, nur mehr ein Video den Vorgang dokumentieren. Doch die zündende Idee stand fürs kritische Werk, das französische Künstlerkollektiv Claire Fontaine bastelte noch während der Vernissage an dem Wandrelief im Art Play, dem brandneuen Hauptschauplatz der vierten Moskau-Biennale. Der junge Oligarch Andrey Goncharenko hatte innerhalb eines Jahres eine ehemalige Manometerfabrik ausstellungsfein gemacht.

"Künstler sind keine Schöngeister, sondern extrem genaue Beobachter, die über die Handlungsfähigkeit verfügen, diese Beobachtungen auch umzusetzen" , erläutert Biennale-Kurator Peter Weibel sein Konzept. "Mit der Kunst zeigen sie den Bürgern: Ihr seid genauso handlungsfähig wie wir. Das ist ja eigentlich auch die Idee von Beuys, dass jeder ein Künstler ist. Da geht es nicht um die Kreativität, sondern um die Handlungsfähigkeit. Man wird Geschichte nicht mehr fortschreiben, wie sie bisher war. Sondern man wird sie umschreiben, wie auch die Kunst umgeschrieben wird, insofern, als der Kanon der Moderne verabschiedet wird."

Rewriting Worlds ist denn auch Weibels titelgebende These, die er mit unterschiedlichsten Positionen illustriert, darunter so prominenten wie etwa Gerhard Richter, Neo Rauch, Christoph Schlingensief oder Ai Weiwei. Nicht als ein Gesamtkunstwerk habe er die Kunstschau angelegt, sondern wie eine Symphonie, in der wesentliche Fragen öfter wiederkehren: Die der globalen Vernetzung beispielsweise, wenn die in Brasilien lebende italienische Künstlerin Anna Maria Maiolino den Begriff Familienbande wörtlich nimmt und die Münder von Mutter, Tochter, Enkelin mit Schnüren verbindet.

Oder die Frage nach der technologischen Machbarkeit, die Daniel Canogar mit seinen raumfüllenden Knäueln aus Elektrokabeln und Lichtschnüren stellt. Jene nach globalen Energie- und Machtverteilungen thematisiert u.a. der Österreicher Thomas Feuerstein, in seinem Manifesto stellt er Börsenkurse und die unsichtbare Hand des freien Marktes dar. Und vor allem natürlich das Biennale-Thema von den Welten-Umschreibungen taucht immer wieder auf. Martin Waldes subtile Metamorphose einer Wiese voller Löwenzahn in ein Bildfeld voller Zitate gehört dazu; oder Charles Sandison, der über seine Tabula Rasa Wortketten laufen lässt und durch Austausch einzelner Buchstaben den Sinn verändert.

Im Tsum, dem ultimativen Zentrum der Geschäftemacherei, läuft Ingeborg Lüschers Video mit Fußballern in Businessanzügen: "Manager" , sagt Weibel, "haben eine zentrale Rolle in dem Umschreibungsprozess. Wenn jemand zwölf Millionen Euro im Jahr verdient, ist das kein Gehalt, sondern die reinste Anbetung."

Mitmach-Biennale

Künstler-Aktion, Besucher-Reaktion: Weibel hat in Moskau – auch – eine Mitmach-Biennale konzipiert. Nur einmal schnell Vorbeischauen geht nicht. Partizipation ist eines der Codeworte. Da ist beispielsweise der Paravent aus virtuellen Lichtstäben der Brasilianerinnen Rejane Cantoni & Daniela Kutschat, die durch Handbewegungen des Publikums in Schwingung gebracht werden. Oder die Installation des österreichisch-französischen Künstlerpaares Christa Sommerer und Laurent Mignonneau: Auf einem Biedermeiertischchen steht eine alte Kofferschreibmaschine. Doch wenn man zu tippen beginnt, wird die Information via Computer umgerechnet, auf dem Papier erscheinen nicht Buchstaben, sondern Insekten.

Oder der Däne Jeppe Hein, der mit seinem begehbaren Spiegellabyrinth das Verhältnis von Betrachter, Kunst und Umwelt reflektiert; oder Ahmet Ögüt, der den Besuchern abverlangt, die Pappfiguren seiner Installation Bomb Disposal – einen Selbstmordattentäter, Wachhunde, einen Soldaten, eine Frau im Rollstuhl, eine Tasche und ein Mädchen – so über einen imaginären Fluss zu schieben, dass keine Bombe gezündet werden kann. Oder Ruth Schnell, deren Lichtinstallation Freiheit-Gleichheit-Brüderlichkeit durch den Nachzieheffekt erst beim Wegschauen ihre Wirkung entfaltet. Shilpa Guptas poetisches und interaktives Spiel mit Schein und Sein; der Betrachter, dessen Silhouette dank einer Livekamera auf die Leinwand geworfen wird, wird zum integralen Bestandteil einer Videoinstallation.

Es sind aufschlussreiche Spuren durch das aktuelle internationale Kunstgeschehen, die Weibel bis Ende Oktober auslegt. Moskau kommt in dieser Neu- und Umschreibung eine zentrale Rolle zu. Sprach Hegel in seiner Geschichtsphilosophie noch davon, dass der Geist der Geschichte von Osten nach Westen gehe, weil dort Freiheit, Ressourcen und folglich die Macht wären, so verlaufe der Zeitgeist in die entgegengesetzte Richtung, die USA seien verschuldet, nicht China und Russland sei reich an Ressourcen: "Doch egal, wie die Ströme verlaufen, beide gehen durch Moskau. Und wenn man von Next Society spricht, dann ist Moskau das Paradebeispiel dafür, was passiert, wenn drauflos privatisiert wird. Wie Europa sich entwickeln wird, sieht man hier in Moskau." (Andrea Schurian aus Moskau / DER STANDARD, Printausgabe, 29.9.2011)