Michael Rolf Müller (55) ist seit 2007 Leiter der Abteilung für Thoraxchirurgie am Sozialmedizinischen Zentrum Baumgartner Höhe.

Foto: Michael Rolf Müller

Auch die Chirurgie steht mit der Komplementärmedizin in keinem Widerspruch - Der Wiener Thoraxchirurg Michael Rolf Müller bringt Patienten präoperativ mit einer individuellen Regulationstherapie ins Gleichgewicht.

derStandard.at: Was hat Ihr Interesse an der TCM geweckt?

Müller: Ich muss gestehen, ich war ein großer Skeptiker der TCM. Als Chirurg war ich lange Zeit an der Uniklinik tätig, dem Mekka der Schulmedizin. Bauchentscheidungen waren dort verpönt, denn die akademische Medizin verlässt sich ausschließlich auf das, was geschrieben ist. Was nicht in kontrollierten, prospektiven randomisierten Studien bewiesen ist, gilt deshalb nicht. 

Dass die Schulmedizin allein nicht das Wahre sein kann, hat mir ein Vortrag eines TCM-Lehrers offenbart. Mein Sohn, damals sechs Jahre alt, litt seit der Geburt an einer Neurodermitis, die bis zu diesem Zeitpunkt ohne jeden Erfolg behandelt wurde. Der Vortragende hat mir eine unglaublich spannende Welt eröffnet, indem er einfach und nachvollziehbar erklärt hat, wie die Neurodermitis funktioniert. 

derStandard.at: Warum hat die Schulmedizin hier versagt?

Müller: Weil Vernetzung nicht ihre Stärke ist. Schulmediziner sehen nur ein Organ, unter Umständen sogar nur einen Ausschnitt eines Organs beziehungsweise eine spezielle Funktion. Internisten im herkömmlichen Sinn gibt es deshalb schon längst nicht mehr. Heute gibt es Onkologen, Rheumatologen, Hepatologen oder Nephrologen. Diese Spezialisierung hat durchaus einen positiven Effekt. Viele Erkrankungen, für die früher keine Therapie zur Verfügung stand, sind heute heilbar.

Was die Schulmedizin nicht kann, ist Zusammenhänge herstellen und Symptome miteinander verketten. Deshalb wird manches eventuell als Wehwechen abgetan, obwohl es eigentlich mit der Erkrankung selbst zu tun hat. Warum bekommt jemand, der immer im Stress ist und viel Kaffee trinkt, früher graue Haare? Warum leidet jemand gleichzeitig unter kalten Füssen und chronischen Kreuzschmerzen? In der Schulmedizin haben diese Dinge nichts miteinander zu tun, in der chinesischen Medizin sehr wohl.

derStandard.at: Was haben chirurgische Patienten von der TCM?

Müller: Angenommen ein Patient hat Lungenkrebs und braucht vor der Operation eine Chemotherapie. Auch ohne detaillierte chinesische Begutachtung, bietet mir sein Gesicht bereits viel Information, um seine Konstitution zu beurteilen. Ich kann dem Patienten dann nach einer etwas eingehenderen TCM Untersuchung auf den Kopf hin zusagen, welche Probleme er unter der Chemotherapie bekommen wird. Jeder Patient hat ja sein individuelles Spektrum von Nebenwirkungen Ein Teil leidet unter gastrointestinalen Problemen, wie Übelkeit und Gewichtsabnahme, andere kämpfen mit Unruhe und Schlaflosigkeit, bei anderen stehen Sehstörungen und Depressionen im Vordergrund.

derStandard.at: Haben diese Informationen eine therapeutische Konsequenz?

Müller: Ja. Dem Patienten wird bereits vor der Chemotherapie eine individualisierte Behandlung angeboten und sein persönliches Regulationsproblem besser ins Gleichgewicht gebracht. In der Folge wird er unter der Chemotherapie weniger leiden und kann die gesamte Dosierung akzeptieren, ganz einfach weil er sie besser verträgt. Arbeitet die TCM hier der Schulmedizin zu, dann gibt es wesentlich weniger Therapieabbrüche.

derStandard.at: Aber ist es nicht gerade in der Onkologie so, dass dem Patienten Alternativen angeboten werden, wenn die Schulmedizin an ihre Grenzen stößt?

Müller: Ich reagiere sehr ablehnend auf den Begriff Alternativmedizin. Er ist grundlegend falsch. Die Schulmedizin betrachtet Erfahrungsmedizin, wie die traditionell chinesische Medizin, manchmal fälschlich Alternativmedizin. Ebenso bezeichnen manche Komplementärmediziner diese Methoden als Alternativmedizin. Ich bezeichne das als Ausgrenzung. Die Domäne der Schulmedizin sind vergleichsweise akute Erkrankungen, wie Schlaganfall, Lungenkrebs oder Herzinfarkt. Alles was chronisch ist, rheumatologische und immunologische Erkrankungen, Allergien, chronische Verdauungsprobleme oder Haarausfall, werden von der TCM besser verstanden - hier steigt die Schulmedizin in der Kausalbehandlung meist aus.

Die akademische Medizin behandelt hier rein symptomatisch, die Zusammenhänge und Hintergründe werden weder gesehen noch verstanden. Die Ergebnisse sind entsprechend wenig erfolgreich oder dauerhaft. Es wäre jedoch eine Brüskierung der akademischen Medizin, zu behaupten, Komplementärmedizin könne ersetzen, was die Schulmedizin heute bereits zu leisten imstande ist. Die Komplementärmedizin ist daher keine Alternative, sie ist eine sinnvolle Ergänzung. 

derStandard.at: Eine Ergänzung, die wie Kritiker unter anderem behaupten, auf dem Placeboeffekt beruht? 

Müller: Das ist eine sehr provokante Darstellung, aber es stimmt sicher, dass der Placeboeffekt nicht zu unterschätzen ist. Allerdings kommt er nicht spezifisch in der chinesischen Medizin zum Tragen. Der Placeboeffekt lässt sich bei allen Patienten einsetzen und nutzen, allein dadurch, dass sich Mediziner mit ihren Patienten eingehend unterhalten und auf einzelne Probleme, Sorgen und Befindlichkeitsstörungen eingehen. Genau das mag auch einer der Gründe sein, warum sich die chinesische Medizin als so wirksam erweist, weil sie genau hier ansetzt. Sie zeigt umfassendes Verständnis und Interesse, auch an den kleinen Störungen, wie Schlaf- Ess- oder Verdauungsprobleme, die der einzelne bereits selbst als gegeben akzeptiert und sie bezieht immer das familiäre Umfeld und die psychische Situation des Patienten mit ein. 

derStandard.at: Geht es primär darum, die Selbstheilung zu aktivieren?

Müller: Auch, aber die TCM kann wesentlich mehr. Die chinesische Medizin sieht nicht nur ein einzelnes Organ oder Symptom. Sie sieht beispielsweise nicht nur eine Magenübersäuerung, sondern eine Überaktivität oder Stagnation im Holzelement, eine Gallenblasen-Qi-Stagnation und einen Herzblutmangel. Holz attackiert Erde, würden die Chinesen sagen. Wir sagen, es geht uns die Galle über, oder es ist uns etwas über die Leber gelaufen. 

derStandard.at: Lassen Ihre Mitarbeiter die TCM ebenfalls in ihre Arbeit mit einfließen?

Müller: Sie verstehen, was ich mache, sind sehr interessiert. Es wird keineswegs belächelt, im Gegenteil, wenn ich in der Ambulanz Patienten nach TCM begutachte, stellen die Kollegen danach immer viele Fragen dazu. Zwei Kolleginnen, eine praktische Ärztin und eine Chirurgin, zeigen sehr großes Interesse an einer TCM-Ausbildung. Ich werde diesen Wunsch finanziell unterstützen. Das ist mir ein großes Anliegen, weil ich überzeugt davon bin, dass die Zukunft der Medizin ganzheitlich ist. (derStandard.at, 27.09.2011)