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Studenten protestieren am Donnerstag gegen das Athener Sparprogramm.

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Falsche Reaktionen der Politik können aus einer Krise eine Katastrophe machen, meint Reinhart.

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Warum Griechenland eine derartige Krise nicht ohne Umschuldung überstehen kann und Europa das Notwendige nicht länger hinauszögern sollte, erklärt die in Havanna geborene Ökonomin, die derzeit am Washingtoner Peterson Institute for International Economics arbeitet.

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Standard: Die Wirtschaftskrise spitzt sich derzeit neuerlich zu. Wie schlimm ist die Lage?

Reinhart: Nach dem Höhepunkt der Krise 2008 hat es 2010 kurz so ausgesehen, als würde sich die Lage entspannen. Das war ein großer Irrtum. Wir sind zurück in der Gefahrenzone. Die Lage ist potenziell sogar dramatischer geworden. Ursprung des Absturzes war die Überschuldung des Privatsektors. Überall auf der Welt haben Staaten einen Teil dieser Schulden übernommen. Bezahlt haben sie dafür mit neuen Krediten. Nun haben ganze Länder begonnen zu wanken, was neuerlich auf den Bankensektor zurückfallen könnte. Das Problem ist nur: Die öffentlichen Haushalte können sich keinen neuen Crash leisten.

Standard: Gibt es irgendeinen Lichtblick? Die Krise dauert bereits seit fünf Jahren an, irgendwann sollte es doch besser werden.

Reinhart: Das Wirtschaftswachstum ist erfahrungsgemäß nach einer Krise zehn Jahre lang um mindestens ein Prozent niedriger als vor dem Crash, und die Arbeitslosigkeit liegt um durchschnittlich fünf Prozent höher. Diese Entwicklung zeigt sich in allen von uns untersuchten Ländern, und zwar bemerkenswerterweise ganz gleich, wie die Länder auf einen Absturz reagieren. Es scheint so zu sein, dass es einfach sehr lange andauert, um die im Vorfeld einer Krise angehäuften Schulden abzubauen. Es dauert durchschnittlich sieben Jahre nach einem Crash, bis der Privatsektor saniert ist.

Standard: Das klingt sehr deprimierend: Egal, was getan wird, es bleibt schlimm.

Reinhart: Das wäre eine unglückliche Schlussfolgerung. Fakt ist, dass die zehn Jahre nach einer Krise immer von einer suboptimalen wirtschaftlichen Entwicklung begleitet werden. Doch wenn die Politik falsch auf die Probleme reagiert und prozyklisch agiert, wird aus einem schlimmen Szenario sehr schnell ein katastrophales.

Standard: War der ursprüngliche Fehler in Europa nicht der, dass Griechenland nicht schon 2010 umgeschuldet wurde? Derzeit gehen von dem wirtschaftlich unbedeutenden Land Schockwellen aus, die es ohne die vielen Rettungsschirme vielleicht nie gegeben hätte.

Reinhart: Eine Staatspleite kurz hinauszuzögern macht Sinn, um böse Überraschungen zu verhindern. Aber in Griechenland sind wir über dieses Stadium längst hinaus. Inzwischen hatten alle Zeit, sich auf eine Pleite einzustellen. Und diese wird kommen. Es gibt kein Land auf der Welt, das eine solche Schieflage des Haushaltes ohne Restrukturierung überstanden hätte. Europa zögert das Notwendige viel zu lange hinaus. Inzwischen manifestiert sich eine andere Gefahr: Die Geschichte lehrt, dass sich in Ländern, die das Unvermeidliche hinauszögern, die Krise mit der Zeit immer weiter zuspitzt, weil in diesem komischen Zwischenstadium niemand mehr bereit ist, in die Wirtschaft zu investieren.

Standard: Wie sieht es mit anderen Schuldenländern in Europa aus?

Reinhart: Die Umschuldung Griechenlands wird kein Einzelfall bleiben. Auch Irland und Portugal werden restrukturieren müssen. In Irland ist die Schuldenkrise im Bankensektor nach wie vor nicht gelöst, was den Staatshaushalt unerträglich stark belastet. In Portugal ist die Verschuldung zwar kleiner. Aber das Land wächst seit zehn Jahren nicht mehr. Ich glaube gegenwärtig nicht, dass es auch Italien und Spanien treffen wird. Italiens Staatsverschuldung ist zu hoch. Aber die Schulden des Privatsektors sind nicht dramatisch, was hilfreich ist. In Spanien ist es umgekehrt: Die Verschuldung des Privatsektors, der Banken, ist dramatisch, dafür ist der Staat finanziell aber besser beisammen.

Standard: Die USA und der Internationale Währungsfonds (IWF) hacken derzeit heftig auf Europa herum. Kritisiert wird, dass die Union angeblich viel zu langsam auf die Krise reagiert. Zu Recht?

Reinhart: Es ist immer einfacher, etwas beim Nachbarn auszusetzen als bei sich selbst. Fehler wurden auf beiden Seiten des Atlantiks gemacht. Der US-Kongress hat sich bei der Anhebung des Schuldenlimits ja auch nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Aber natürlich wären schnellere Entscheidungen begrüßenswert. Auch was eine Aufstockung des Rettungsschirms EFSF betrifft, kann ich nur sagen: Es wäre besser, wenn die Sicherheitsnetze künftig groß genug sind.

Standard: Ihr jüngster Aufsatz über Financial Repression hat für viel Aufregung gesorgt. Sie argumentieren in dem Artikel, dass Staaten Schuldenkrisen regelmäßig dadurch lösen, indem sie Sparer enteignen. Können Sie den Begriff Financial Repression näher erklären.

Reinhart: Financial Repression bezeichnet eine Art der Besteuerung von Sparern und Vermögen. Dabei geht es um einen Mix von Maßnahmen, mit denen Regierungen ihre Kontrolle über Kapitalmärkte stärken. Die Staaten senken Zinsen und lassen die Inflation steigen, was entschuldend wirkt. Gleichzeitig werden Investoren wie Pensionsfonds und Banken - durch Anreize und Zwang - dazu angehalten, Staatsanleihen zu kaufen.

Standard: Ist das die Lösung?

Reinhart: Ich würde sagen: ein Teil der Lösung. Ob sie sinnvoller ist als andere Steuern, etwa die derzeit überall diskutierten Reichensteuern, lässt sich schwer sagen. Im Gegensatz zu Reichensteuern sind die Effekte der Financial Repression breiter gestreut, weil alle Sparer, insbesondere Pensionisten, betroffen sind. In der Geschichte hat das Konzept oft funktioniert: Dass es den USA nach dem Zweiten Weltkrieg gelungen ist, ihren Haushalt in Ordnung zu bringen, haben sie zu einem großen Teil der Financial Repression zu verdanken. Ich bin überzeugt, dass wir auch in naher Zukunft mehr solcher Maßnahmen sehen werden.

Standard: Wie groß schätzen Sie die Probleme der USA ein? Die Herabstufung der US-Bonität durch Standard & Poor's hat für viel Wirbel gesorgt. In der Realität sind Investoren zuletzt aber erst recht in US-Anleihen geflüchtet. Die USA finanzieren sich derzeit zu rekordverdächtig niedrigen Zinsen.

Reinhart: Ja. Aber auch griechische Anleihen galten bis kurz vor der Krise als nahezu genauso sicher wie deutsche Papiere. Die Höhe der Zinsen ist ein sehr schlechter Indikator dafür, wie nah eine Krise ist. Bis kurz vor der Katastrophe können sie sehr niedrig sein, und von einem Tag auf den anderen ist dann plötzlich alles ganz anders. (András Szigetvari, DER STANDARD; Print-Ausgabe, 24.9.2011)