Zuerst der Arabische Frühling, jetzt der Berliner Herbst. In Tunesien, Ägypten, Libyen hat das Internet Tyrannen gestürzt. In Berlin hat die neue Webwelt die bestehende Parteienordnung umgekrempelt.

Das "Internet"

Natürlich war es nicht "das Internet", sondern eine Generation, die, mit den Möglichkeiten sozialer Onlinemedien ausgestattet, ihre Unzufriedenheit artikulieren und bündeln konnte. In den arabischen Ländern ist es offenkundig, dass Internet nur Mittel zum Ziel einer offenen Gesellschaft ist. In Berlin - und dem restlichen Europa, in dem Piraten bereits in Parlamenten sind oder sich als politische Gruppierungen zusammentun - ist Internet sowohl Mittel als auch Ziel: Die Freiheit des Internet ist die Parole der Piraten.

Aber welche Freiheit ist dabei gemeint? Zur Erinnerung: In Schweden, wo alles anfing, ging es um die Verteidigung der ambivalenten Freiheit zum Raubkopieren von Filmen über das vermittelnde Portal "Pirate Bay". Dieses verneinte letztlich ein Gericht mit absurd hohen Freiheits- und Geldstrafen, was zur Politisierung führte. Und gleichzeitig wurden die unlauteren Methoden sichtbar, mit denen eine Industrie ihre legitimen Interessen schützen wollte.

Sperren

In Deutschland entzündete sich der Widerstand der Piraten gegen das Vorhaben, Kinderpornoseiten amtlich sperren zu können. Die Freiheit von Kinderpornografen war dabei nur in Kauf genommen für die Freiheit, dass Webseiten nicht einfach ohne ordentliches Gerichtsverfahren zensiert werden konnten.

Eine Kombination beider Beweggründe findet sich in vielen Ländern wieder, etwa in diversen Initiativen, Onlineanschlüsse von Usern zu sperren, die Musik oder Filme raubkopieren. Wie leichtfertig Regierungen bereit sind, die Freiheit im Netz zu opfern, zeigte sich auch bei den Unruhen in London. Da soziale Medien wie Blackberry Chat oder Twitter eine Rolle bei der Verständigung der "Randalierer" spielten, waren britische Politiker schnell mit Forderungen bei der Hand, Mobilfunk und Internet in solchen Situationen einfach abzuschalten (was mit wenig Erfolg auch Mubarak und Gaddafi probierten).

Aber während die Freiheit des Internets, die es zu verteidigen gilt, in diesen Fragen leicht zu definieren scheint, fällt es in anderen Fällen schwerer. Etwa bei Whistleblowing nach Wikileaks-Muster: Was ist erlaubt, was sollte "Anstand" (freiwillige Selbstverpflichtung) regeln, was Gesetze? Und vor allem: nach wessen Gesetzen - US-Terrorgesetzen? EU-Richtlinien?

Zivilgesellschaft

Oder das Thema von Anonymität und offener Identität: Was in autoritären Staaten zum Schutz einer unterdrückten Zivilgesellschaft nötig (und schwer herzustellen) ist, dient in Demokratien oft nur als Vorwand für anonymen Vandalismus. Was nahtlos zu Hackergruppen wie Anonymous und Lulzsec führt: Sind die Piraten für deren Freiheit, Kreditkartendaten von Konzernen zu knacken und damit nicht nur den "bösen" Konzernen zu schaden, sondern auch Millionen privater User?

Ein lebhafter, vernünftiger Diskurs über diese Themen ist nötig. Piraten haben dabei die richtigen Antworten so wenig gepachtet wie Autofahrerparteien bei Verkehrsregeln. (helmut.spudich@derStandard.at, DER STANDARD Printausgabe, 22. 9. 2011)