Sciences Po Paris.

Foto: derStandard.at/Pumberger

Inschrift von der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Sorbonne.

derStandard.at/pumberger

Die Soziologin Agnes Van Zanten fordert wirkliche Reformen, anstatt Veränderungen in homöopathischen Dosen.

derStandard.at/pumberger

Richard Descoings, Direktor der Sciences Po Paris.

derStandard.at/pumberger

Dieser Bericht wurde im Rahmen von eurotours 2011 erstellt. eurotours ist ein Projekt der Europapartnerschaft, finanziert aus Gemeinschaftsmittelen der EU.

"Wenn man den Jungen Vertrauen schenkt, haben sie auch Erfolg", sagt der Direktor der Sciences Po, Richard Descoings. Er wiederholt den Satz. "Confiance" - "Vertrauen" - das ist einer seiner Schlüsselbegriffe. "Es gibt die Möglichkeit die Gesellschaft zu verändern, das ist eine optimistische Botschaft."

Descoings ist seit 15 Jahren Leiter einer der Prestige-trächtigsten Hochschulen Frankreichs, der Sciences Po in Paris. Die Elite-Einrichtung setzt ihren Schwerpunkt auf Politikwissenschaft, Wirtschaft und Rechtswissenschaft und zählt auf diesem Gebiet zu den besten Europas. Charmant und witzig wirkt Descoings nun im "Salle a manger" im Uni-Gebäude im noblem siebten Arrondissement der französischen Hauptstadt. Eines seiner grundlegenen Projekte feiert zehnjähriges Jubiläum, die "convention educations prioritaire".

Dabei werden in sogenannten "Zone Educative Prioritaire" - "prioritären Erziehungszonen" - Studierende mit sozial-schwachem Hintergrund ausgewählt und an der Sciences Po aufgenommen. Dies soll zu einer besseren Durchmischung der Studentenschaft beitragen. Die Freude ist dem Rektor anzusehen. Über alle Spötter und Zweifler hinweg hat sich seine Hochschule den sozialen Problemen in Frankreich gestellt.

Flankiert wird Descoings bei der Jubiläumspressekonferenz von Absolventen der Sciences Po, die aus den sogenannten "prioritären Erziehungszonen" stammen. Alle haben sie heute einen guten Job, bei einer Bank oder einem Wirtschaftsunternehmen. Der Aufstieg aus den soziale Brennpunkten ist ihnen gelungen. Vor allem in die Privatwirtschaft zieht es die Absolventen aus sozial-schwachem Milieu. Descoings ist sichtlich stolz, aber für sein Programm musste er auch viel Kritik hinnehmen. Das Niveau der Sciences Po würde sinken, war eines der gängigsten Argumente seiner Gegner, welches heute noch zu hören ist.

"Eine andere Welt"

Für das französische Hochschulsystem waren diese Maßnahmen zur "positiven Diskriminierung" eine kleine Revolution. Bis dahin schien die Sciences Po wie auch andere Elite-Universitäten für Kinder aus den sozialen Brennpunkten aufgrund ihrer strengen Aufnahemprüfungen - dem "Concours" - unerreichbar. "Als ich an die Sciences Po kam wusste ich, dass ich in einer anderen Welt war", sagt einer der Absolventen, der heute bei einer Bank in London arbeitet. Sein Sprung von einem Vorstadtlycee an die Elite-Uni sei auch für seine Umgebung eine Veränderung gewesen: "Heute sehen die Schüler in der Sciences Po einen möglichen Weg".

Frankreich kennt zwei Hochschulsysteme: Zum einen gibt es die "Grandes Ecoles", kleine fachspezifische Elite-Einrichtungen, die ihre 180.000 Studierenden durch ein rigides Aufnahmeverfahren aussuchen. Auf der anderen Seite gibt es die Universitäten, die wie in Österreich frei zugänglich sind und als Masseninstitutionen alles andere als ideale Bedingungen aufweisen. Wer in Frankreich etwas erreichen will, versucht den Aufnahmetest an einer der Kaderschmieden, wie der ENA, der Ecole Polytechnique oder der Ecole Normale Superieure.

Kaderschmiede und Leistung

Auch die Sciences Po gehört zu jenen Kaderschmieden. Hat man den Einstieg  einmal geschafft, steht einem meist eine gute Karriere ins Haus. Der ehemalige französische Präsident Jaques Chirac hat hier studiert, sein Vorgänger Francois Mitterand ebenso - neben einer Reihe anderer Staats- und Regierungschefs sowie Wirtschaftsbosse. Auch der amtierende französische Präsident Nicolas Sarkozy besuchte die Sciences Po, musste jedoch sein Studium abbrechen.

Das System der Grandes Ecoles ist eng verknüpft mit der Geschichte des Landes. Als in der französischen Revolution die geistlichen Universitäten geschlossen wurden, brauchte der Staat Ausbildungsstätten, die ihm loyale Fachbeamte bringen sollten. An der Ecole Normale Superieure zeugt noch heute eine Inschrift über das Gründungsdatum im französischen Revolutionskalendar von der Gründung. Gleichzeitig entstand das Prinzip der "Meritocratie". Statt eines Erbadels wurde eine Art Leistungsadel eingeführt. Durch Leistung wurde die soziale Stellung in der Gesellschaft bestimmt - in der Theorie sollte allen Bürgern alle Möglichkeiten offen stehen.

Früher Selektionsprozess

Doch von diesen heheren Zielen ist die französische Gesellschaft weit entfernt. Die Grandes Ecoles haben sich zu sozial selektiven Einrichtungen entwickelt. Kinder aus Akademikerfamilien finden sich überproportional vertreten, Kinder aus Arbeiter- und Einwandererfamilien sind unterrepräsentiert.

"Weil es dieses Eliten-System gibt, beginnt der Selektionsprozess der Elite sehr früh. Dabei gibt es viele subtile Prozesse, wie die Schulwahl durch die Eltern oder die Wahl der Schulrichtung. Das Bildungssystem hat das elitäre Prinzip verinnerlicht, deswegen ist das System nicht offen für alle. Das Schulsystem verstärkt sogar die Ungerechtigkeiten", erklärt die Soziologin Agnes van Zanten derStandard.at. Van Zanten, die zurzeit an einer Studie zur französischen Elite-Erziehung arbeitet, kritisiert auch die mangelnden Veränderungen innerhalb der Grandes Ecoles, zu wenig geschehe um sie sozialer zu gestalten.

Seit zehn Jahren gibt es sanfte Reformen. Die Sciences Po startete als eine der ersten Schulen ihr Programm, andere zogen nach. Für viele Grandes Ecoles ist jedoch die Aufgabe des "Concours" - des Eingangstests - ein rotes Tuch. Sie setzen stattdessen auf Tutoriumsprogramme.

Reform in homöopatischen Dosen

Die "Conference des Grandes Ecoles" (CGE)- ein Zusammenschluss von rund 150 Grandes Ecoles - erarbeitete auch ein Programm zur sozialen Öffnung ("Ouverture sociale"). Die Sciences Po gehört nicht zu der CGE, am ehesten kann man die CGE in Österreich mit der Universitätenkonferenz vergleichen. "Der Ansatz der CGE unterscheidet sich von der Sciences Po dahingehend, dass wir für alle denselben Concours haben", sagt eine Vertreterin der Conference des Grandes Ecoles zu derStandard.at. Anstelle der Trennung der Aufnahmetests forciert die Conference des Grandes Ecoles und ihre Mitgliedsschulen Tutoriums- und Stipendienprogramme.

Für die Kritiker sind die Maßnahmen der Grandes Ecoles höchstens ein Anfang. Die Soziologin Agnes van Zanten, selbst Wissenschafterin an der Sciences Po, sieht in ihnen lediglich Veränderungen in "homöopatischen Dosen". Für Maria Cotora, von der Hochschülervertretung UNEF handelt es sich um "Mikro-Programme", die eine minimale Verbesserung bedeuten. Sogar Nicolas Sarkozy schaltete sich im Jahr 2010 in die Debatte ein und forderte eine größere soziale Durchmischung der Grandes Ecoles.

Soziale Öffnung

"Ein Land, das nur zehn Prozent seiner Bevölkerung zur Elitenauswahl heranzieht, beraubt sich 90 Prozent seiner Intelligenz", so der französische Staatspräsident ausgerechnet anlässlich der Neujahrswünsche an Lehrer und Professoren. Sarkozy will, dass 30 Prozent der Studierenden an den Grandes Ecoles Stipendienempfänger sind. "Die Grandes Ecoles wollen nicht das Anforderungsniveau senken, um eine Quote zu erfüllen", heißt es aus der Conference des Grandes Ecoles dazu. Die Veränderungen der letzten Jahre sind jedoch nur gering.

Als die Sciences Po 2001 damit begonnen hat, spezielle Aufnahmeprozederen für Jugendliche aus sozialen Brennpunkten zu installieren, startete man mit sieben Partnerschulen und 17 aufgenommenen Studierenden. Im vergangenen Studienjahr waren es bereits 127 Studierende, die aus 85 Schulen in Frankreich und den Überseedepartements wie Neukaledonien kommen, und ein Studium an der Sciences Po beginnen. Insgesamt studieren rund 10.000 Studierende an der Sciences Po und ihren Filialen an sechs verschiedenen Standorten in Frankreich.

Im Zuge der Öffnung wurden Partnerschaften mit den Lycees abgeschlossen, die Anwärter müssen verschiedene Arbeiten während des letzten Schuljahrs abschließen, am Ende empfielt ein Gremium bestehend aus der Lehrerschaft die Kandidaten. Diese werden dann von der Sciences Po zu einer mündlichen Prüfung eingeladen. Rund zehn Prozent der StudienbeginnerInnen an der Sciences Po durchlaufen dieses Prozeduren mittlerweile.

Langsame Veränderungen

Durch weitere Öffnungen hin zu internationalen Studierenden kommen nun nur mehr 40 Prozent der Studierenden durch den klassischen "Concours" an die Hochschule. Mehr als die Hälfte, der durch die "convention educative prioritaire" aufgenommenen Studierenden hat ein Elternteil, welches außerhalb Frankreichs geboren ist, zwischen 50 und 80 Prozent der auf diese Weise aufgenommenen kommt aus Arbeiter-, Angestellten- oder Arbeitslosenfamilien.

An den Gesamtzahlen der aufgenommenen Studierenden ändert das nur langsam etwas. Im Studienjahr 1997/98 waren beispielsweise an der Sciences Po ein Prozent aller Studierender aus Arbeiterfamilien. Heute sind es 4,5 Prozent. Der Anteil der Studierende, deren Eltern Angestellte sind, stieg von 2 auf 7,5 Prozent.

Von 53 Prozent auf 50 Prozent nur leicht verringert hat sich hingegen der Anteil derjenigen, die Kinder von leitenden Angestellte oder Führungskräften sind. In den letzten zehn Jahren stieg an der Sciences Po auch die Zahl der Stipendienempfänger von 6 auf 27 Prozent. Der Politologe Vincent Tiberj konstatiert: "Die Sciences Po ist im Verhältnis sozial offen, aber die conventions educations prioritaire schließen nicht die Lücke zu den Universitäten."

"Vereinheitlichung des Hochschulsystems"

Die Soziologin Agnes van Zanten sagt: "Die Politik der sozialen Öffnung ist dazu da um die Eliten zu erneuern und nicht um die Ungerechtigkeiten zu beseitigen." Vielmehr würde es zur Demokratisierung der Eliten-Ausbildung beitragen, wenn das Schulniveau angehoben werden würde, um möglichst viele Studierende aus sozial-schwachen Schichten an die Universitäten zu führen, argumentiert die Soziologin.

"Es gab sehr wenig Öffnung in den letzten Jahren, abgesehen von Mikro-Programmen von einigen "Grandes Ecoles". Wenn man sich die Zahlen anschaut, betrifft das aber nur sehr wenige Studierende. Der Concours ist geblieben, das System auch", sagt die Studentenvertreterin Maria Cotora  im Gespräch mit derStandard.at.

"Wenn man die Grandes Ecoles wirklich verändern will, muss man die Aufnahmemodalitäten verändern und sich auch die Frage stellen, welche Rolle die Grandes Ecoles im Hochschulsystem überhaupt spielen sollen", sagt Cotora. Nicht weniger als die "Vereinheitlichung des Hochschulsystems" fordert sie, die selbst an der Sciences Po studiert. Die Grandes Ecoles sollen dabei in die Universitäten integriert werden. Die Grandes Ecoles werden sich dagegen wehren. (Sebastian Pumberger, derStandard.at, 17.10.2011)