Am Beginn stand ein Zettel. Gefunden, eingesteckt und mit nach Hause gebracht. Kariert und gefaltet, handbeschrieben, mit dem WIFI-Logo rechts oben am Rand und einem Schuhabdruck. "Wie kann ich erkennen daß ich sie liebe wenn sie mich pausenlos verletzt? Kann ich treu sein! Was geht mir ab (was ging mir ab) Liebe ich sie/wie mich."

Foto: Sigrid Eyb-Green

Vor mehr als einem Jahr begann die Wiener Künstlerin/Restauratorin Sigrid Eyb-Green handbeschriebene Notizzettel von öffentlichen Plätzen aufzulesen und ihnen Beachtung zu schenken. Einkaufslisten, Mitteilungen, Planungen, Überlegungen...

Foto: Sigrid Eyb-Green

Was aus Zufall, Interesse, Neugier begann, entwickelte sich zu einer Ansammlung, in Folge zu einer Sammlung und letztendlich zu einem Vorhaben, denn zunächst willkürlich oder banal Scheinendes erwies sich bald als überraschend präzise Abbildung eines Ortes und seiner Bewohner. "Hier werden existentielle Dinge wie Nahrung, Krankheit und Liebe, Sorgen und Wut verhandelt", sagt Sigrid Eyb-Green.

Foto: Sigrid Eyb-Green

Etwa 200 Zettel umfasst die Sammlung heute. Die Faktoren Umfang und Zeit eröffneten eine eigene Lesart, für Eyb-Green wurden Muster erkennbar. Erst mit dem Abstand einiger Monate wurde klar, dass es Jahreszeiten-spezifische Zettel gibt. An einem heißen Juliabend fand sich ein Blatt Papier mit der Warnung: !ACHTUNG! BIENENSCHWARM HINTERM HAUS (Seite Dr. KLACKL)! FEUERWEHR + HAUSVERWALTUNG BEREITS VERSTÄNDIGT! Kohl Tür 7."

Foto: Sigrid Eyb-Green

Die Einkaufslisten im Spätherbst kündeten von ersten Verkühlungen: Bronchialtee / Ibumetin / Hendl (ganz) / Gemüse / Taschentücher / Katzenfutter. Auch formell hinterließ der Herbst seine Spuren - in Form von Blattfragmenten und -abdrücken.

Foto: Sigrid Eyb-Green

Im Dezember wurde die Sammlung um eine in weihnachtlicher Backtradition stehende Liste erweitert: Mehl glatt / Natron (Pulver) / Brauner Zucker / Schokolade, weiß / Vollmilchschokolade / Schokolade 70% Kakao / Bourbon Vanillezucker.

Foto: Sigrid Eyb-Green

Meist geht es um die existentiellen Dinge des Lebens: Ernährung, Krankheit, Liebe, Ärger. Man kann die gesammelten Notizen inhaltlich ordnen. Zu jedem Zettel vermerkt Eyb-Green neben dem Zeitpunkt auch den Fundort. Daraus ergeben sich neue Perspektiven: "Wer soziale Stratigraphien studieren will, kann Lebensmittel mit Bezirken korrelieren oder Medikamentenlisten mit dem Durchschnittsalter der Lokalbevölkerung." In Wien Hietzing ärgert man sich höflich: Vielleicht können Sie sich nächstes Mal ein bisschen näher an den Randstein stellen, es würde den anderen das Einparken erleichtern. Danke.

Foto: Sigrid Eyb-Green

Einkaufslisten machen den größten Teil der Zettel aus: Manche sind Familien zuzuordnen - Toastbrot / Mozarella / Kaugummi / 2 Milch / Kinderzahnpasta / Nutella - oder zeugen von festlichen Anlässen - Sekt / Kekse Baguette / Aufstrich / Grissini. Die Einkaufslisten älterer Menschen tragen nicht nur durch Schriftbild, sondern auch Inhalt eine eigene Handschrift: Bandnudeln / Backerbsen / Kümmel ganz / WC Papier, Freizeit Revue...

Foto: Sigrid Eyb-Green

Demgegenüber stehen Einkaufslisten, die von Krankheit und Schmerz zeugen: Apicilina 2 Cuti cop / Gesacilina 2x / Voltaren 2 / Parcemed 2.

Foto: Sigrid Eyb-Green

Diesen Zettel gab Eyb-Green dem ägyptischen Maronibrater an der Ecke zur Übersetzung. Es sei die Anleitung zu einem schwarzmagischen Ritual, einem bösen Fluch, meinte er. Der Zettel solle schleunigst entsorgt werden. "Bislang habe ich seinen Rat noch nicht befolgt, denn vielleicht findet sich doch noch jemand, der mir die Liste übersetzt?"

Foto: Sigrid Eyb-Green

Dagegen wird das Stelldichein um 15.30 Uhr in Zimmer 805 ein Geheimnis bleiben.

Foto: Sigrid Eyb-Green

"Zettel werden geschrieben, verloren, in den Staub getreten, vom Regen aufgelöst, vom Wind verweht, von der Müllabfuhr entsorgt. Mein Ausschnitt ist ein zufälliger, eine Lücke eher: die Luft im Ärmel des geborgten Pullovers zentraler Teil der Sammlung", sagt Eyb-Green.

Foto: Sigrid Eyb-Green

Formen, Muster, Strukturen: Die Restauratorin erfreut sich an der Sinnlichkeit von Papier, in das sich der Asphalt eingeprägt hat, am Abdruck von Sohlen, an Knicken, am geometrischen Staubmuster, das sich beim Auffalten der Zettel ergibt. "Alle Verformungen und Verfärbungen, alle Spuren des Straßenlebens sind ja Teile der Biographie, und man soll den Objekten ihre Geschichte nicht nehmen."

Foto: Sigrid Eyb-Green

"15 dag Extrawurst" wird einmalig im Rahmen der langen Nacht der Museen an der Akademie der bildenden Künste Wien gezeigt: 1. Oktober 2011, 18 bis 24 Uhr, Schillerplatz 3, 1010 Wien

Foto: Sigrid Eyb-Green

Sigrid Eyb-Green studierte in Wien Restaurierung, zog nach New York und lebt seit zehn Jahren wieder in Wien.Sie ist Mitarbeiterin am Institut für Konservierung-Restaurierung an der Akademie der bildenden Künste. (red, derStandard.at, 20.09.2011)

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