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Bekannt für offene Worte: Zhu Rongji.

Foto: AP/dapd/Greg Baker

Politische Witze über Pekinger Führer waren vor zehn Jahren rar. Wenn sich der Volksmund zu spotten traute, ließ er kein gutes Haar an ihnen. Nur einer kam wegen seiner Integrität und seinem Kampf gegen Chinas Missstände gut weg: Zhu Rongji. Er setzte von 1991 bis 2003 zuerst als Notenbankchef und Vizepremier, ab 1998 als Ministerpräsident unter Parteichef Jiang Zemin eine Reihe von Marktreformen durch, die Chinas Weg zur heutigen ökonomischen Weltmacht ebneten.

Respekt vor Zhu verrät ein um 2001 erzählter Witz: Staatschef Jiang Zemin kommt von einer Auslandsreise zurück und fragt seinen Büroleiter, was inzwischen passiert sei. "Hat Vizepremier Li Ruihuan wieder Unsinn erzählt? Hat Parlamentschef Li Peng Lügen verbreitet? Macht Premier Zhu Rongji uns mit neuen Reformen Ärger? Und hat Fräulein Song angerufen?" (Gemeint war eine Sängerin, der der Volksmund ein Verhältnis mit Jiang andichtete.)

Zehn Jahre später sorgt Pensionär Zhu wieder für Aufsehen. Der 82-Jährige legt Rechenschaft über seine Regierungsführung 1991 bis 2003 ab. Der Volksverlag veröffentlichte Orginalreden Zhus in vier Bänden auf 2000 Seiten.

Ein Jahr vor Chinas Machtwechsel im Herbst 2012, bei dem die heutigen Führer Hu Jintao und Premier Wen Jiabao nach Ende ihrer Amtszeit gegen eine neue Mannschaft ausgetauscht werden, kommt dem Rückblick ihres Vorgängers besondere politische Bedeutung zu. Die mutige Wochenzeitung Nanfang Zhoumo eckte bereits mit dem Vorabdruck an. Aus Zhus Antrittsrede als Premier 1998 und der Abschiedsrede 2003 wählte sie zwei Zitate als provozierende Überschriften. Chinas Internetöffentlichkeit verstand sie als Anspielung auf Premier Wen Jiabao und Aufforderung an seinen künftigen Nachfolger, nicht mehr zu lavieren, sondern auf Reformen zu setzen. 1998 lautete Zhus Kampfansage an korrupte Funktionäre: "Das Volk würde der Regierung nicht verzeihen, wenn wir uns immer nur 'lieb Kind' machen wollen." Die zweite Überschrift lautete: "Was wäre ich für ein Premier, wenn im mich nicht um den Schmerz des Volkes kümmerte!" Das war zu viel: Die Nanfang Zhoumo erschien ohne Vorabdruck. Nur ihre Abonnenten erhielten die Zeitung komplett.

Für Pekings Führung sind die bisher unveröffentlichten Reden des "zornigen alten Mannes" politisch heikel, denn der Unbestechliche, wie er genannt wird, legte sich für seine Reformen mit allen Interessengruppen an. Dennoch erschienen sie nun mit amtlichem Segen.

Das Parteiorgan Volkszeitung schrieb, warum sie für China von so "großer Wichtigkeit" sind. Zhu setzte umwälzende Wirtschafts-, Sozial- und Finanzreformen durch, durch die sich die sozialistische Planwirtschaft in die sozialistischen Marktwirtschaft verwandelte.

Sein Ansehen erlaubt Ex-Premier Zhu, aus der Reihe der Politbüro-Rentner zu tanzen, die sich verpflichteten, ihren Nachfolgern nicht in die Quere zu kommen. Im April stattete er der Pekinger Qinghua-Universität einen überraschenden Besuch ab. Es sei ein Skandal, wenn auf Schanghais Automesse Luxusautos für rund 13 Mio. Euro verkauft würden, während sich in der Armutsprovinz Qinghai viele Kinder keinen Schulbesuch leisten könnten, sagte er. Chinas Propaganda und die TV-Staatsnachrichten bezeichnete er als sinnloses "Gequatsche". (DER STANDARD, Printausgabe, 15.9.2011)